Olympia:Eine Generation, die den Mund aufmacht

Lesezeit: 6 min

Vorne Lilly King, hinten Julia Jefimowa. (Foto: Clive Rose)

Junge Olympia-Starter wie die Amerikanerin Lilly King wollen ihren Sport nicht den Betrügern überlassen - und zeigen offen ihre Abscheu.

Von René Hofmann, Rio de Janeiro

Julia Jefimowa sagte, sie sei "happy". Aber sie sah ganz anders aus. Sie rang mit den Tränen, kniff die Augen zusammen, knetete ihre Finger und schaute Hilfe suchend um sich. Aber Hilfe war nirgendwo in Sicht. In Sicht war nur eine sehr selbstbewusste 19-Jährige, die wenige Meter neben ihr auf dem Podium saß, den Rücken durchgedrückt, das Kinn nach vorne geschoben, den Blick fest gerade aus gerichtet: Lilly King.

Die Spiele in Rio sind erst ein paar Tage alt. Aber schon jetzt ist klar: Lilly King gegen Julia Jefimowa - das wird als eines der großen Duelle dieser Spiele in Erinnerung bleiben, als eines der entscheidenden. Weil es dabei nicht nur darum ging, wer 100 Meter in der Brustschwimmtechnik am schnellsten zurücklegt. Sondern weil es dabei um die Frage ging: Wie geht es weiter mit dem Sport? Und zwar nicht nur mit dem Schwimmsport.

Zu Julia Jefimowa muss man wissen: Sie wurde am 3. April 1992 in Grosny in Russland geboren. Sie ist also 24 Jahre alt, eine erfahrene Schwimmerin, die schon etliche internationale Erfolge in ihrer Biografie stehen hat. Vier Weltmeister-Titel zum Beispiel, 2012 bei den Spielen in London gewann sie eine Bronzemedaille.

Aber nicht alles an Jefimowas Biografie ist glänzend, es gibt auch dunkle Flecken. Im Oktober 2013 wurde sie mit DHEA erwischt, mit Dehydroepiandrosteron, einem verbotenen Steroid. Sie bekam eine Sperre. Im Frühjahr dieses Jahres dann der nächste positive Befund. Es ging um Meldonium, ein Mittel, das seit dem Jahreswechsel auf der Verbotsliste steht. Als Wiederholungstäterin drohte Jefimowa eine lebenslängliche Sperre.

"Ein Schlag ins Gesicht für alle Sportler, die sauber arbeiten"

Der entging sie, weil herauskam, dass die Abbauzeit von Meldonium vielleicht länger ist als zunächst gedacht. Jefimowa hätte den verbotenen Stoff also auch vor dem Stichtag genommen haben können. Dem Olympia-Ausschluss wegen des russischen Staatsdoping-Programms, den in ihrem Fall selbst das IOC gerne gesehen hätte, entging Jefimowa ebenfalls. Sie zog vor den Internationalen Sportgerichtshof Cas und gewann. Sie hat also einiges unternommen, um nach Rio zu kommen. Ob sie ahnte, was sie dort erwarten würde?

Schwimmerin Ledecky bei Olympia
:"Sie schwimmt wie ein Kerl"

Die US-Schwimmerin Katie Ledecky könnte bei Olympia in Rio richtig abräumen. Die 19-Jährige hat sich einiges bei den Männern abgeguckt.

Von Saskia Aleythe

Bisher war es ja so: Doper konnten sich darauf verlassen, dass irgendwann über ihr Vergehen nicht mehr gesprochen wurde. The show must go on: Das galt auch für sie. Das Publikum sah, zumindest zu großen Teilen, gerne großzügig über dunkle Flecken in der Biografie hinweg. Irgendwann ebbten die Fragen nach dem Thema ab. Auch, weil Konkurrenten die Schandtaten nicht mehr groß zur Sprache brachten. Mit all dem ist es nun vorbei.

Julia Jefimowa wird in Rio von den Zuschauern zuverlässig ausgepfiffen. Als Begrüßungsgruß schmetterte ihr der deutsche Bundestrainer Henning Lambertz entgegen: Ihr Start sei "ein Schlag ins Gesicht für alle Sportler, die sauber arbeiten". Und dann war da noch Lilly King.

Über Lilly King muss man wissen, dass sie am 10. Februar 1997 in Evansville in Indiana geboren wurde. Sie ist also noch eine sehr junge Athletin. Die Spiele in Rio sind die erste Großveranstaltung, an der die 19-Jährige teilnimmt. Das Finale, in dem sie in der Nacht zum Dienstag auf Julia Jefimowa traf, war das erste wirklich große Rennen ihrer Karriere. Und als sei das allein noch nicht genug Druck, lud sich dieses Schwimm-Küken ganz bewusst noch eine mächtige Last auf: Sie machte ihre Abscheu gegen Jefimowa öffentlich.

Am Tag zuvor, als Jefimowa ihr Halbfinalrennen gewonnen hatte und den Finaleinzug mit einem in die Luft gereckten Zeigefinger feierte, ahmte King die Geste nach und höhnte: "Du hebst den Finger, weil du dich als Nummer eins fühlst. Dabei bist du beim Dopen erwischt worden. Ich bin kein Fan von dir." Die US-Medien griffen das Statement schnell auf. Es kann nicht lange gedauert haben, bis Jefimowa von ihm wusste.

Lilly King auf Bahn vier gegen Julia Jefimowa auf Bahn fünf, Startzeit 22.54 Uhr: Das war von da an der Showdown, auf den die Welt blickte. Wer würde triumphieren? Und wer würde anschließend was sagen? Und was würde passieren, wenn sich die beiden auf dem Podium begegnen würden? Manche Duelle werfen viele Fragen auf. Das Duell King gegen Jefimowa sollte am Ende viele Fragen beantworten.

Serie: Olympias Mehrkämpfer
:Sie schwamm um ihr Leben - und startet nun bei Olympia

Vor einem Jahr floh Yusra Mardini aus Syrien und bewahrte ein Flüchtlingsboot vor dem Kentern. Das Wasser hat sie dann erst mal gehasst. Trotzdem schaffte es die 18-jährige Schwimmerin nach Rio.

Von Verena Mayer

King gewann. Um 0,57 Sekunden ließ sie Jefimowa hinter sich. Das war deutlich. Und was King anschließend zu sagen hatte, ließ an Eindeutigkeit ebenfalls nichts vermissen. Ihr Sieg bedeute ihr viel, sagte Lilly King, "weil er zeigt, dass wir sauber gewinnen können". Und ja, sie bleibe bei ihrer Meinung, dass Julia Jefimowa in Rio nichts zu suchen habe.

Lilly King sagte das mit fester Stimme im voll besetzten Pressesaal des Aquatics Stadion, während Julia Jefimowa neben ihr saß. Sie ist nicht nur meinungsstark, sie ist auch meinungsfest. Jefimowa versuchte eine Verteidigung.

Jefimowa rang um Fassung und mit den Tränen

Ja, sie habe einmal einen Fehler gemacht. Aber für den Meldonium-Befund könne sie nun wirklich nichts. Das Mittel sei doch lange erlaubt gewesen. Dass es dann so plötzlich auf der Verbotsliste aufgetaucht sei, das sei, als verbiete die Welt-Anti-Doping-Agentur von einem Tag auf den anderen, Joghurt zu essen. Zum angeblichen Staatsdoping in Russland könne sie nichts sagen, weil sie darüber nichts wisse. Sie sei im vergangenen Jahr ja lediglich einen Monat in ihrer Heimat gewesen, sonst habe sie in den USA trainiert.

Jefimowa rang um Fassung und mit den Tränen, als sie fortfuhr: Die Sportler und die Fans sollten nicht glauben, was die Medien erzählten. Das sei alles von der Politik gesteuert. Es klang wie eine Rede aus einer längst vergangenen Zeit. Kalter Krieg, Ost gegen West. Aber dem nahm Lilly King mit einer Klarstellung jede Basis: Sie sei generell der Meinung, dass Betrüger bei Olympia nichts zu suchen haben. Egal, wo sie herkommen.

Auch ihren Teamkollegen Justin Gatlin, dem 2001 die Einnahme von Amphetaminen nachgewiesen worden war und 2006 die Einnahme von Testosteron, würde sie am liebsten sofort aus dem Olympischen Dorf werfen. Zur Erinnerung: Gatlin, 34, hat 2004 in Athen Gold im 100-Meter-Sprint gewonnen und 2012 Bronze. Er ist derjenige, der in Rio Übersprinter Usain Bolt herausfordern soll; Lilly King dagegen stand am Montag zum ersten Mal auf der Olympia-Bühne.

Rio 2016
:US-Schwimmer starten Olympia mit Carpool Karaoke

Michael Phelps und die anderen US-Stars filmen sich selbst im Auto. Sie singen, bestellen Eis, verkleiden sich - ein witziger Moment vor einem Großereignis, bei dem das IOC auf Humorfreiheit setzt.

Von Jürgen Schmieder

Für einen Schritt, wie sie ihn tat, braucht es Mut. Vorbilder helfen da. Lilly King verriet, wer ihr unmittelbares Vorbild gewesen war: Mack Horton. Der Australier hatte den Chinesen Sun Yang am Samstag, bevor er ihn über 400 Meter Freistil auf den Silber-Rang verwiesen hatte, einen "Doping-Betrüger" genannt. Der französische Rückenschwimmer Camille Lacourt ätzte sogar: "Sun Yang pinkelt lila." Sun Yang war im Mai 2014 mit dem Stimulanzmittel Trimetazidin erwischt worden.

Mack Horton ist 20. Auch für ihn sind die Spiele in Brasilien seine ersten. Ganz offensichtlich wächst da eine neue Generation an Sportlern heran, die etwas kann und sich etwas traut. Die nicht will, dass Missstände weiter verschwiegen und vertuscht werden. Eine Generation, die den Mund aufmacht, auch wenn das üble Reaktionen provoziert. "Du wirst schnell sterben": Diese Botschaft ließ ein chinesischer Schwimm-Fan Horton über dessen Instagram-Account zukommen.

Todesdrohungen, von denen unklar ist, wie ernst sie gemeint sind, die aber zeigen, wie ernst die Sache ist. Es gärt etwas in diesem Olympia-Becken, das ist deutlich zu spüren. Sun Yang schwamm in der Nacht zum Dienstag wieder. Und dieses Mal gewann er. Es ging über 200 Meter Freistil, die Strecke, über die Paul Biedermann, 30, den Weltrekord hält (1:42,00 Minuten) und die er in Rio zum letzten Mal absolvierte.

Olympia
:Nur Phelps' Sohn blickt böser drein

Warum hampelt Chad le Clos vor dem Start so herum? Michael Phelps missbilligt die Aktion seines Konkurrenten - und findet später eine bemerkenswerte Ausrede.

Von Jürgen Schmieder

Sieger Sun Yang schlug nach 1:44,65 Minuten an, Biedermann nach 1:45,84 Minuten als Sechster. Um sechs Zehntelsekunden war er in seinem letzten Einzelrennen an einer Medaille vorbeigeschwommen. Das große Thema war sein Abschied nicht. Es ging um Größeres. Das war auch daran zu erkennen, wie routiniert sein Trainer Frank Embacher das Rennen analysierte, und wie leidenschaftlich er wurde, als es um das Thema Doping ging. Es müsse sich etwas grundlegend ändern. Der Entschluss des IOC, die Frage, welche Sportler in Rio starten dürfen, den Sportverbänden zuzuschieben, sei kein guter gewesen. Es seien aber nicht nur russische Schwimmer, denen man nicht trauen könne. Embacher blieb vage, eines aber war klar herauszuhören: der Wunsch, so möge es nicht weitergehen.

Der Wunsch ist im Olympiapark derzeit oft zu hören. Es sieht so aus, als sei etwas zu Bruch gegangen. Und jeder weiß, dass die zerbrochenen Teile nicht mehr zusammenzufügen sind. Etwas Neues muss her.

IOC sieht derart klare Worte nicht als Hilfe an

Nur das IOC sieht derart klare Worte, wie sie Lilly King wählte, hierbei offenbar nicht als Hilfe an. "So etwas ist aus unserer Sicht nicht wünschenswert", sagte IOC-Sprecher Mark Adams zu der Kritik an Jefimowa, "wir wünschen uns, dass auch die Sportler den Fairplay-Gedanken achten, aber wir können ihnen letztendlich auch nicht das Sprechen verbieten." Es klang ziemlich deutlich durch, dass so ein Sprech-Verbot den Funktionären wahrscheinlich am liebsten wäre. Sie leben ja ziemlich gut im Status quo - einem Zustand, in dem Kritik an dopenden Sportlern also gegen den Fairplay-Gedanken verstößt.

Auch Julia Jefimowa äußerte in dieser Nacht noch einen Wunsch: Wenn jemand einen Fehler macht, dann würde doch jeder wollen, dass ihm anschließend geholfen werde, oder etwa nicht, fragte sie und blickte Hilfe suchend zu Lilly King und der Drittplatzierten Katie Meili, die ebenfalls auf dem Podium saß. Die beiden Amerikanerinnen sagten nichts. Sie würdigten Julia Jefimowa noch nicht einmal eines Blickes. Sie schauten einfach nur geradeaus. Es war ganz klar, wer an diesem Abend gewonnen hatte.

© SZ vom 10.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Olympia
:Silva lässt Brasilien vor Freude weinen

Von Rio ist keine perfekte Olympia-Party für eine defekte Welt zu erwarten. Aber die Reaktionen auf Brasiliens erstes Gold machen Hoffnung.

Kommentar von Boris Herrmann

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: