Nationalelf testet gegen Brasilien:Achtung, alle können alles

Der DFB denkt um. Die üblichen Testspiele gegen Länder wie Norwegen und Ungarn werden reduziert, stattdessen bekommt die Nationalelf große Gegner wie Holland und Frankreich serviert - und jetzt Brasilien. Wie gut ist Deutschlands Team dafür wirklich gerüstet?

Philipp Selldorf

Joachim Löw hat zwar nie über das Notizbuch gesprochen, aber es dürfte kein Zweifel bestehen, dass es dieses Buch gibt. Seit Sepp Herberger sind deutsche Bundestrainer sozusagen von Amts wegen verpflichtet, ein legendäres Notizbuch zu führen, in dem sie die Namen der Kandidaten für die Nationalmannschaft festhalten.

Training Fußball-Nationalmannschaft Brasilien

Brasilianische Fußball-Nationalmannschaft: "40, 50, vielleicht 60 Topspieler"

(Foto: dpa)

Löws Vorgänger Erich Ribbeck, Rudi Völler und Jürgen Klinsmann kamen mit dünnen bis durchsichtigen Heftlein aus, die Jugendabteilungen der deutschen Klubs waren noch keine Fabriken wie heutzutage die Talentschulen der Profiklubs. Die Namenskolonnen in Löws Notizbuch mögen daher allmählich unübersichtlich werden, aber das ist nichts im Vergleich zu den Verhältnissen, mit denen sein brasilianischer Kollege Mano Menezes zu tun hat. "Brasilien hat 40, 50, vielleicht 60 Topspieler", weiß Joachim Löw, "es gibt allein fünf oder sechs Spieler, die defensiv rechts spielen können."

Es könnte dem Bundestrainer einfallen, ein wenig neidisch zu werden auf Menezes, dessen Notizbuch das Format eines Telefonbuches hat, denn die Ligainternate bringen zwar verheißungsvollen Nachwuchs hervor, es gibt aber noch Positionen, in denen Lehrstellen unbesetzt bleiben.

Der Nationalelf stehen auf der rechten Abwehrseite keine fünf oder sechs profilierten Bewerber zur Verfügung, auch nicht zwei oder drei - es gibt einfach gar keinen gelernten Spezialisten. Nachdem Philipp Lahm beim FC Bayern von der rechten auf die linke Seite transferiert wurde, soll er nun auch im DFB-Team umziehen. Die Wendeverlierer sind die bisherigen Platzhalter Dennis Aogo und Marcel Schmelzer.

Es sei denn, sie absolvieren eine Umschulung für den Posten auf dem rechten Flügel, um den aktuell die berufsmäßigen Innenverteidiger Benedikt Höwedes und Jerome Boateng konkurrieren. Hinzu kommt Christian Träsch, der just deshalb aus Stuttgart nach Wolfsburg gewechselt ist, damit er dort auf seiner Wunschposition im defensiven Mittelfeld spielen kann.

Löw hat dennoch keine Klagen angestimmt, als er am Dienstag die letzten Neuigkeiten auf dem Weg zum Duell mit Brasilien verkündet hat, denn die Vorfreude ist viel zu groß. Sechs Jahre liegt die jüngste Begegnung zurück, nun treffen in Stuttgart zwei komplett verschiedene Fußballkulturen aufeinander.

Fortbildung gegen große Fußball-Nationen

Die wesentlichen Vorzüge des Gegners hat der Bundestrainer mit einem Bonmot zusammengefasst: "Alle können alles am Ball." Taktische Schwächen als Mannschaft kompensierten die Spieler durch individuelle Kunst. "Eine großartige Nation", weiß der Mönchengladbacher Marco Reus anzumerken.

Selbst Bastian Schweinsteiger, der sich am Fernsehschirm ständig fortbildet über den Stand des internationalen Fußballs, weiß Brasiliens Künstlerreservoir nicht richtig einzuschätzen. Sein Wissen vom Aufgebot der Selecao fürs Spiel in Stuttgart endet bei Namen wie Ganso und Fred, von den Kadermitgliedern Ralf und Jonas hat er noch nichts gehört. "Die wichtigsten Spieler kenne ich", sagt Schweinsteiger, "die anderen stellt uns unser Chefscout Urs Siegenthaler vor."

Wie die Deutschen verbinden auch die Brasilianer mit dem Test in Stuttgart ein großes Ziel. Die Brasilianer denken an 2014, an die WM in ihrem eigenen Land; die Deutschen denken an die EM 2012, vor allem aber an Spanien, "das Maß aller Dinge im Weltfußball" (Löw).

Auf die nächste schicksalhafte Begegnung mit Spanien richtet sich alles Planen und Trachten beim DFB, die Begegnung mit Brasilien markiert einen neuen Ansatz in der Methodik. Die ehedem üblichen Tests gegen Länder wie Norwegen oder Ungarn hat man aus dem Bestand genommen, stattdessen werden der Nationalelf jetzt große Gegner wie Holland (November) und Frankreich (Februar 2012) serviert.

"Diese Tests sind wichtig, um unsere jungen, talentierten Spieler heranzuführen", hebt Löw hervor und nennt das Beispiel des Dortmunders Mario Götze, der gegen Brasilien sein Debüt in der Startelf der DFB-Auswahl erleben dürfte. Götze gehört nach Löws Auffassung zu der Sorte Spieler, die seine Elf auf das Niveau der großen Spanier heben könnte: "Er hat die Genialität am Ball, er ist schon sehr, sehr weit."

Aber die Bundesliga reicht Löw nicht als Bewährungsprobe. "Wir können Fortschritte erzielen, wenn wir die individuelle technische Qualität verbessern", sagt Löw. Und von wem soll Götze das besser lernen als von den Brasilianern?

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: