Italiens Nationaltrainer Prandelli:Sisyphos mit Kanten

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Der italienische Nationalcoach Cesare Prandelli bilanziert ein bewegtes Jahr: Erfreuliches mischte sich im Calcio mit Ärgerlichem - zwischen dem EM-Finale der "Squadra Azzurra" und dem Wettskandal in der Liga lagen nur wenige Wochen. Und beim Blick nach Deutschland empfindet der Commissario auch Neid.

Von Birgit Schönau, Rom

Was macht Cesare Prandelli eigentlich, wenn er gerade nicht die italienische Fußball-Nationalmannschaft trainiert? Er spielt zum Beispiel Theater, gemeinsam mit Häftlingen der Justizvollzugsanstalt in Monza. Auch auf der Bühne geht es um Fußball, um zwei Teams, die eine vor 30 Jahren unterbrochene Partie wieder aufnehmen. Und Prandelli verkörpert einen Trainer, also sich selbst. "So ungefähr", grinst er und schwärmt gleich vom Regisseur: Gianfelice Facchetti, Sohn des legendären Inter-Kapitäns Giacinto Facchetti.

Weil Facchetti senior 1970 beim Jahrhundert-Halbfinale dabei war, als die Italiener bei der WM in Mexiko 4:3 gegen die Deutschen gewannen, ist man gleich beim Thema. "Es war vielleicht unser bestes Spiel", sagt Prandelli - und meint Italiens 2:1 gegen Deutschland bei der EM in diesem Jahr.

Ansonsten verliert er darüber nicht viele Worte, Italienern fällt naturgemäß zum deutschen Halbfinal-Fluch nicht ganz so viel ein, weil dieser Fluch für sie ja ein Halbfinal-Segen ist: Bislang haben sie noch immer gewonnen. Die Deutschen, erklärt Prandelli artig, spielten "Avantgarde-Fußball". Das ist als Kompliment gemeint: Die Deutschen sind doch moderner als wir. Und ihre Stadien sind es sowieso.

Am Sitz der Auslandspresse in Rom redet Prandelli über sein bewegtes Jahr. Der Höhepunkt: natürlich der Finaleinzug bei der EM. Der Tiefpunkt: nicht das 0:4 im Finale gegen Spanien, sondern der Auftritt der Polizei im Trainingslager der Azzurri. Im Morgengrauen des Pfingstmontags, also kurz vor dem EM-Turnier, veranstalteten Polizisten auf Weisung der wegen Wettbetrugs ermittelnden Staatsanwaltschaft zu Cremona eine Razzia bei der Nationalmannschaft. Dem Verteidiger Domenico Criscito wurde ein Ermittlungsbescheid überreicht - üblicherweise geschieht das ohne derartigen Theaterdonner.

Der Commissario Tecnico Prandelli strich Criscito damals umgehend aus dem Kader. Als Tage später Gerüchte um illegale Wetten von Kapitän Gianluigi Buffon laut wurden, bot Prandelli sogar an, die Mannschaft vom Turnier abzuziehen. Eine Provokation, die Wirkung zeigte, erschrocken gelobten Politik und Presse, die Azzurri zu unterstützen. "Ich glaube, ich habe die Situation ganz gut durchgestanden", sagt Prandelli heute, "das Wichtigste war, die Mannschaft zu beruhigen."

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Mario Gomez schwankt zwischen Heldenstatus und Scholl`schem Krankenschwester-Einsatz, Mesut Özil explodiert zwar nicht, hat aber immerhin mehr Energie als Bastian Schweinsteiger. Während Sami Khedira Superlative sammelt, lässt sich Philipp Lahm selbst von der Statue Balotelli nicht einschüchtern. Die Deutsche Elf bei der EM 2012 in der Einzelkritik.

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Er könnte jetzt betonen, dass die Ermittlungen gegen Criscito mittlerweile eingestellt sind. Und dass die Razzia im Trainingslager somit wohl doch ein bisschen überzogen war. Aber Cesare Prandelli ist nicht der Mann, der die Probleme im italienischen Fußball kleinredet, das unterscheidet ihn von seinen Vorgängern.

Prandelli berichtet, dass der Verband jetzt massiv Aufklärungsarbeit leiste, schon in den Jugendmannschaften. Den Spielern werde erklärt, was sie riskieren, wenn sie sich auf Schiebereien einlassen. Und dass es auch bestraft wird, wenn sie die Schiebereien anderer nicht anzeigen. Letzteres hat jüngst Juve-Trainer Conte eine viermonatige Sperre eingebracht.

Cesare Prandelli kann sehr ausführlich über ein anderes, großes Problem des Calcio reden: die maroden Stadien. Er gerät dann richtig in Rage darüber, wie schlecht die meisten Klubs der Serie A immer noch ihre Tifosi behandeln, wie wenig der Fußball ein Fest sein kann in den traurigen Kulissen der Arenen. Wenn er davon anfängt, wirkt Prandelli, als müsse er wie Sisyphos immer denselben Felsbrocken den Hügel hochwälzen, als gehe es einfach nie voran. Dabei trug er doch auch in diesem Jahr entscheidend dazu bei, dass Italiens Fußball heller glänzt als der Rest.

Während Premier Mario Monti tatsächlich vorschlug, den Spielbetrieb angesichts der "schauderhaften Lage" mal ein, zwei Jahre anzuhalten, machte die Nationalmannschaft bella figura. Und das nicht nur auf dem Platz. Monti tritt jetzt ab, Prandelli bleibt noch zwei Jahre. Es ist kein Geheimnis, wer von den beiden beliebter ist. Auf jeden Fall könnte der nächste Regierungschef von diesem Nationaltrainer lernen. Manchmal hat man fast das Gefühl, dass das Spiel für Prandelli eine Neben- sache ist und die Nationalelf ein Vehikel.

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Deutsche Medien beweinen die Bitterkeit der Halbfinal-Niederlage gegen den Angstgegner, italienische Zeitungen feiern die fulminante Show von Stürmer Mario Balotelli, britische Boulevardjournalisten beschäftigen sich eher mit seinen Brustmuskeln. Die DFB-Elf sieht man sogar in den USA kritisch.

EM-Halbfinale

Taktische Erörterungen langweilen ihn, damit ist er schnell fertig. Mein Gott, das bisschen Fußball, "stell drei gute Verteidiger zusammen, bereite sie sorgfältig vor - und du kriegst eine super Abwehr". Aber was man sonst noch mit der Squadra Azzurra anstellen kann, dazu fällt ihm eine Menge ein: Aktionen gegen die Mafia, gegen Rassismus oder die Gewalt gegen Frauen - Prandelli ist für jeden guten Zweck zu haben. Und so repräsentieren die Azzurri auf einmal ein besseres Italien.

Wer das nicht schafft, darf nicht mitmachen. Da ist der Nationaltrainer streng. Er verlangt einwandfreies Benehmen im Klub und außerhalb des Platzes. Mario Balotelli kann ein Lied davon singen, der Angreifer wird von Prandelli immer wieder ermahnt. "Er muss gründlich in sich gehen", sagt der Coach auch jetzt, "Mario muss allein die Kurve kriegen, dabei kann ihm keiner helfen." Das Beschönigen liegt Cesare Prandelli nicht, vielleicht macht er deshalb keine Werbung. Es würde womöglich aber auch nicht passen. Man kann halt nicht für Gesichtscreme werben und dann mit Häftlingen Theater spielen.

Wo Joachim Löw sich um Glätte bemüht, pflegt Prandelli seine Kanten. Wegen seiner Wallfahrten bei der EM wurde er ein bisschen belächelt, das macht ihm nichts aus. Nach jeder Partie pilgerte er im Morgengrauen, manchmal zehn, 15 Kilometer weit. Waren denn auch Spieler dabei? "Nooo!" Übrigens auch keine Journalisten, feixt er: "Aber beim Confederations-Cup in Brasilien werde ich wohl aufs Pilgern verzichten. Die Entfernungen sind einfach zu groß."

© SZ vom 19.12.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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