Fußball-EM:Zerrüttet und durchwirbelt auf Sardinien

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Im Trainingslager der deutschen Nationalelf wird die Kritik von Bundestrainer Joachim Löw an den internationalen Verbänden abgemildert - von Löw höchstpersönlich. Unterdessen drängt sich der junge Gladbacher Torwart Marc-André ter Stegen mit guten Leistungen auf und bringt die Hierarchie im deutschen Tor durcheinander.

Philipp Selldorf, Porto Cervo

Am Dienstag um zwölf bekam die deutsche Nationalmannschaft Besuch von der italienischen Polizei. Während Andreas Köpke seine Torhüter abwechselnd von links nach rechts und von rechts nach links fliegen ließ und der Fitnesstrainer Shad Forsythe die kleine Schar der Feldspieler in Dauerläufen durch die Mittagshitze scheuchte, fuhren die Carabinieri mit ihrem Streifenwagen effektvoll auf dem Parkplatz vor und bezogen dort Stellung, als ob eine wichtige Amtshandlung bevorstünde.

Von diesen vier Herren ist nur einer sicher bei der EM dabei - der Zweite von rechts, Torwart-Trainer Andreas Köpke. Die anderen drei bangen noch. (Foto: dapd)

Die beiden Beamten stiegen aus - und gesellten sich dann zu den zahlreichen Schaulustigen, die seit dem Vormittag den Parkplatz bevölkerten, manche auf Matten und Decken lagernd wie am Strand. Der DFB betreibt während der Übungszeiten auf Sardinien eine ungezwungene Publikumspolitik, wer zuschauen will im Mini-Stadion Andrea Corda, der ist willkommen. Von diesem Angebot machten auch die Polizisten gerne Gebrauch.

Es hat zwar jetzt wieder kritische Worte zur ersten Etappe der EM-Vorbereitung gegeben, diesmal vom Bundestrainer selbst, der in einem Statement auf der Verbands-Homepage feststellte, er habe "schon das Gefühl, die Vorbereitung ist ein bisschen zerrüttet". Aber die Lage ist nun keineswegs so schlimm, wie es das schroffe Wort "zerrüttet" nahelegt. Das hat der Bundestrainer klar stellen lassen, nachdem man ihn unterrichtete, welch lebhaftes Echo seine Bemerkung in der stets zur Beunruhigung bereiten Medienwelt ausgelöst hatte. Daher verbreitete der DFB eilig das nächste Statement von Joachim Löw. Es lautete: "Ich bin absolut zufrieden mit dem Training. Wir müssen eben flexibel sein."

Künftig, namentlich beim nächsten Vorbereitungszyklus zur WM 2014, würde es Löw allerdings begrüßen, wenn die internationalen Verbände den Nationalteams mehr gemeinsame Zeit garantierten. Diesmal müssen die Klubs ihre Spieler nicht vor dem 25. Mai freigeben. So muss Löw wegen der Verpflichtungen im Europacup und beim Arjen-Robben-Gedächtnisspiel am 22. Mai nicht nur auf seine Bayern-Auswahl verzichten, sondern auch auf die Madrilenen Özil und Khedira, die mit Real in Kuwait vorspielen und auch erst später das zweite Reiseziel Südfrankreich ansteuern werden. "Da muss man künftig andere Lösungen finden", mahnt der Bundestrainer.

Gut möglich, dass am Dienstag auch einige der Spieler aus dem Fähnlein der Aufrechten Sehnsucht nach gemütlichen Testspielen mit ihren Klubs bekamen. Der Arbeitstag begann zunächst harmlos mit ein wenig Ballgeschiebe. Podolski und Klose (Zerrung am Sprunggelenk) hatten im Hotel bleiben müssen, dafür reihte sich erstmals der genesene Höwedes in den kleinen Kreis der Feldspieler ein. Höwedes hatte Glück, er erhielt Sonderbehandlung, die anderen aber mussten laufen.

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Sie bildeten zwei Gruppen, in der ersten rannten Lars Bender und Reus drauflos, als müssten sie die letzte S-Bahn bekommen; in der zweiten joggten Cacau, Mertesacker, Draxler und Schürrle. Am Ende lief bloß noch einer: Selbst das Leichtgewicht Reus konnte Bender nicht mehr folgen, vermutlich wäre sogar der große Haile Gebrselassie am unermüdlichen Oberbayern gescheitert.

Zuschauen darf jeder. Oliver Pocher (rechts im Bild) verfolgt das Training der Nationalelf auf Sardinien. (Foto: dapd)

Löw und sein Assistent Hansi Flick verfolgten das Spektakel mit Staunen. Diesen Dauerlauf werden sie wahrscheinlich berücksichtigen, wenn sie sich in zwei Wochen über die Nominierung des endgültigen Kaders beraten. Die Frage wird dann nicht sein, ob man einen Bender braucht, sondern wie viele Benders das Team brauchen kann. Sven, der in Dortmund beschäftigte Bruder von Lars, traf am Dienstag mit vier weiteren Borussen (Hummels, Götze, Schmelzer, Gündogan) auf der Insel ein.

Am anderen Ende des Platzes waltete derweil der Torwartobmann Köpke seines Amtes. Auch ihm fällt noch die Aufgabe zu, bis zum Stichtag 29. Mai eine Wahl zu treffen. Einen von den dreien, die er auf Sardinien instruiert, wird er nach Hause schicken müssen, ihm ist jetzt schon nicht wohl dabei. "Das sind Gespräche, die einem schwer fallen und wehtun", sagte er, "aber sie müssen geführt werden." Bis zur Nominierung von Marc-André ter Stegen, 20, schien das Torwartthema eines der unauffälligeren Themen des Nationalteams zu sein. Neuer, Wiese, Zieler, die Rangfolge schien festzustehen.

Seit aber der extrem ehrgeizige ter Stegen (samt Freundin) Einzug im DFB-Team gehalten hat und binnen weniger Tage die Ferndiagnose bestätigte, dass er in Art und Auftreten ein würdiger Nachfolger für Oliver Kahn zu sein scheint (bloß mit moderner beidfüßiger Balltechnik ausgestattet), seitdem ist die Hierarchie im Tor durcheinander. Köpke erklärte, er habe auch die Torhüter Ulreich, Baumann und Leno "auf dem Zettel gehabt, aber es war dann keine schwierige Entscheidung für Marc-André".

Mit anderen Worten: ter Stegen hat sich durch seine Leistungen aufgedrängt, und er hört auch jetzt nicht auf, aufdringlich zu sein. Köpke sagt: "Wir haben keine Rangfolge festgelegt. Jeder hat die Chance, in den 23er-Kader zu kommen." Da stehen noch spannende Trainingseinheiten bevor.

© SZ vom 16.05.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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