Premier League:Missbrauch in England: "Es war ziemlich ekelhaft"

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Der ehemalige Nationalspieler Matthew Le Tissier im Jahr 1995 ist der prominenteste Betroffene, der sich bisher gemeldet hat. (Foto: Picture-Alliance / Photoshot)

Mehr als 600 Fälle, mehr als 350 Opfer: Im britischen Jugendfußball war sexueller Missbrauch weit verbreitet - auch ein englischer Ex-Nationalspieler ist betroffen.

Von Christian Zaschke, London

Nun hat sich auch Scotland Yard in die Ermittlungen zum Kindesmissbrauch im britischen Fußball eingeschaltet. Die Londoner Polizei ist die 21. Behörde im Land, die Vorwürfen von ehemaligen Spielern gegen Jugendtrainer nachgeht. Scotland Yard ist die größte Polizeibehörde Großbritanniens, womit der Fall noch einmal eine weitere Dimension bekommt.

Offenbar waren sexuelle Übergriffe in den Jugendabteilungen der Klubs auf der Insel in den Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahren verbreitet. Die Koordinierungsstelle der ermittelnden Behörden geht derzeit von 83 Verdächtigen aus. 98 Klubs könnten betroffen sein. Die Zahl der Opfer übersteigt 350. Zu 98 Prozent sind diese männlich. Die jüngsten Opfer waren sieben Jahre alt, die ältesten 20. Inzwischen wird auch in Schottland und in Nordirland ermittelt. Es ist ein schmutziges Kapitel des britischen Fußballs, das da Stück für Stück ans Licht kommt.

Dass die Vergangenheit nun so gründlich aufgerollt wird, ist vor allen Dingen dem 43 Jahre alten Andy Woodward zu verdanken. Der ehemalige Spieler von Crewe Alexandra ist vor drei Wochen an die Öffentlichkeit gegangen und hat erzählt, wie er jahrelang vom Jugendtrainer Barry Bennell missbraucht worden war. Seither vergeht kaum ein Tag, an dem nicht weitere ehemalige Fußballer von Missbrauch berichten. Vom Beglotzen und Betatschen, von Vergewaltigungen, über Jahre wieder und wieder. Woodward hat ihnen mit seinem Schritt den Mut gegeben, ebenfalls an die Öffentlichkeit zu gehen. Dass man im Fernsehen ehemalige Fußballer sieht, die schluchzend von ihren Leiden erzählen, ist in Großbritannien mittlerweile normal.

Eine Legende meldet sich zu Wort

In dieser Woche hat sich der ehemalige Nationalspieler Matthew Le Tissier geäußert. Er ist der erste wirklich prominente Fußballer, der von Übergriffen erzählt. Sein Spitzname lautet "Le God", er verbrachte seine gesamte Karriere als Profi beim FC Southampton, wo er unvergleichlich erhaben durchs Mittelfeld trabte. Le Tissier ist eine Legende. Wenn so jemand sagt, dass es im britischen Fußball ein Problem mit Kindesmissbrauch gab, dann ist auch dem letzten Fan klar, dass dies nicht einfach eine Petitesse ist, die rasch wieder verschwindet.

Le Tissier erzählte, wie der Jugendtrainer Bob Higgins seinen Schutzbefohlenen Nacktmassagen angedeihen ließ. "Alle waren nackt und wurden aufs Bett geworfen und massiert. Heute sieht man sofort, dass das falsch ist, aber damals als Kind hat man sich gefragt, ob das vielleicht einfach normal ist. Es war ziemlich ekelhaft." Vielen Jungen war es peinlich, erzählt er, und so haben sie Witze gerissen, um sich zu schützen und ihre Unsicherheit zu überspielen. "Wenn man heute die Geschichten hört von Nacktmassagen mit Seife und Wettbewerben, wer die meisten Haare am Hintern hat, denkt man natürlich: Moment mal, was war denn da los?"

Le Tissier sagt, er selbst fühle sich nicht missbraucht, weil in seinem Fall nichts Schlimmeres passiert sei. Aber er pries all diejenigen, die jetzt den Mut haben, vom Missbrauch zu erzählen.

Die englische Liga warnte übrigens bereits 1989 in einem Brief an alle Klubs vor Higgins - ohne genau zu sagen, warum. In Southampton flog er daraufhin raus, ohne offizielle Begründung. 1992 stand er wegen sexueller Belästigung von Jungen vor Gericht und wurde freigesprochen. Er arbeitete dann noch viele Jahre im Fußball, unter anderem in Peterborough. Solche Fälle werfen die Frage auf, inwieweit Übergriffe seinerzeit im Fußball toleriert oder einfach nicht ernst genommen wurden.

Eddie Heath, in den Siebzigerjahren ein Jugendcoach beim FC Chelsea, hatte zum Beispiel die Angewohnheit, seine Spieler an den Genitalien anzufassen. Als Gary Johnson seinen Eltern davon erzählte, ist Heaths Assistent mal bei denen vorbeigekommen und hat abgewiegelt. Das sei normal, für Heath seien Kinder und Fußball nun mal das Wichtigste. Das war 1974, und der Trainer blieb fünf weitere Jahre auf seinem Posten und missbrauchte Kinder.

Johnson wurde später Profi beim FC Chelsea, von 1978 bis 1981 spielte er in der ersten Mannschaft. Vor einem Jahr zahlte der Klub ihm 50 000 Pfund Schmerzensgeld für den Missbrauch. Bedingung: Er solle nicht darüber reden. Mittlerweile hat der Klub eingesehen, dass dieses Vorgehen falsch war, und versprochen, sich an der Aufklärung zu beteiligen.

Der Kinderschutzbund hat eine Hotline eingerichtet, bei der in den vergangenen drei Wochen Hunderte Anrufe eingegangen sind. 639 Fälle wurden an die Polizei zur weiteren Untersuchung übergeben. Die Ermittlungen werden in der "Operation Hydrant" koordiniert, die sich auf Übergriffe konzentriert, die in der "entfernteren Vergangenheit" liegen. Aus der jüngsten Vergangenheit liegen bisher keine Meldungen bezüglich sexueller Übergriffe vor. Richard Scudamore, Chef der Premier League, beeilte sich in dieser Woche, den Eltern der 3000 Kinder, die in den Jugendzentren der Erstligaklubs trainieren, brieflich zu versichern, dass diese Akademien regelmäßig überprüft würden.

© SZ vom 10.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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