Deutsche Skispringer:Leichtigkeit gesucht

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Einer der wenigen, die im deutschen Team die Erwartungen bei der Tour erfüllen: Stephan Leyhe (Foto: dpa)

Liegt es am Kopf? Fehlt das Bauchgefühl? Zur Halbzeit der Vierschanzentournee rätseln die deutschen Athleten über ihren Leistungseinbruch. Bundestrainer Schuster hat trotzdem noch Hoffnung.

Von Volker Kreisl, Garmisch-Partenkirchen

Man wüsste gerne mal, wo genau das Problem eigentlich sitzt. Vielleicht im Kopf? Die Skispringer sprechen gerne vom "Kopf ausschalten", wie viele Sportler, wenn es um psychische Hindernisse geht. Dabei hat das Gehirn ja so viele weitere Funktionen, das schaltet man lieber nicht komplett ab, wenn man mit 90 Sachen auf eine Schanzenkante zurast. Vielleicht ist das, was fehlt, aber auch eine Sache im Bauch, also eher so etwas wie ein Mangel an Intuition. Oder an Selbstbewusstsein? Oder an der sogenannten körperlichen Intelligenz? Und sitzt die nicht irgendwie in den Nerven, in den Muskelfasern?

Die 63. Vierschanzentournee ist zur Hälfte vorbei, und die deutsche Mannschaft ist auf der Suche. Statt um den Titel mitzumischen, sind die Springer von Bundestrainer Werner Schuster dabei, den Schaden zu begrenzen. Sie hatten vorab erklärt, sie hätten wieder das Zeug dazu, den Gesamtsieg zu erringen, aber der war dann schon nach dem ersten Durchgang in Oberstdorf in weiter Ferne.

Deutsche beim Neujahrsspringen
:Meter um Meter herangepirscht

Mit dem Podest haben die Deutschen auch beim Neujahrsspringen nichts zu tun - aber Freund und Freitag zeigen einen Aufwärtstrend. Der Norweger Jacobsen überrascht mit seinem Sieg nach einigen Rückschlägen.

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Schuster wirkte geschockt, nannte den Auftritt "katastrophal", kündigte Besserung in Garmisch-Partenkirchen an, aber auch die Besserung blieb stecken wie viele Autos zuvor im Schneetreiben. Severin Freund und Richard Freitag fanden ihre Plätze neun und zehn selber nicht berauschend, und der sonst so höfliche Freund wirkte leicht gereizt von der Fragerei nach den mysteriösen Ursachen. Natürlich habe er sich mehr vorgenommen, aber dies sei eben "die Tournee und kein Kasperle-Springen".

Nun stehen sie auf den Rängen zwölf und 13, und sie reisen mit mehr als 45 Punkten Rückstand nach Innsbruck, wo ein Föhnsturm die Qualifikation am Samstag bedroht. Die Distanz zu den Führenden ist so groß wie vor zehn Jahren, als das deutsche Skispringen nach der Erfolgs-Ära mit Sven Hannawald und Martin Schmitt auch nicht mehr vorankam.

Der kleine Zwischenerfolg von Marinus Kraus, 23, der in Oberstdorf bei seinem Flug im Wind fast schwer gestürzt wäre und in Garmisch auf einen beachtlichen 13. Platz kam, ging unter. Denn die Abteilung Nachwuchs repräsentierte zuletzt vor allem der Siegsdorfer Markus Eisenbichler, 23, der aber nach einer famosen ersten Weltcupphase pünktlich zur Tournee keine Weiten mehr erzielt und vorzeitig ausscheidet.

Horst Hüttel, der sportliche Leiter für das Skispringen im Deutschen Skiverband, verweist wie alle deutschen Offiziellen auf den Erfolg von Sotschi. Das olympische Mannschaftsgold habe gerade Selbstvertrauen gegeben. "Wir haben gezeigt, dass wir, wenn wir am Tag X alle sieben Sachen beieinander haben, die Besten der Welt sein können." Die siebte Sache - die Leichtigkeit, die Selbstverständlichkeit, die Abgezocktheit - fehlt jetzt, und womöglich muss man auf der Suche nach ihr etwas weiter zurückdenken.

Horst Hüttel und Werner Schuster hatten 2008 das Skispringen in Deutschland neu aufgestellt. Hüttel, der schon Erfolge mit den Nordischen Kombinierern vorweisen konnte, hatte die Übernahme des Skispringens davon abhängig gemacht, dass der Österreicher Schuster kommt. Gemeinsam verpassten sie dem deutschen System ein einheitliches, moderneres Trainingskonzept, stärkten die Stützpunkte und hoben die Standards in der frühen Ausbildung.

Das Team um Severin Freund wuchs, sammelte erste Weltcup-Punkte und auch Medaillen als Mannschaft. Doch wenn es um einen großen Einzeltitel wie den der Tournee ging, wenn die Zuschauer im Dezember die Tickets für Oberstdorf buchten, dann blieb Schuster vorsichtig. Er wusste ja, wie wackelig die Springer- psyche unter Erwartungsdruck sein kann, und stapelte lieber tiefer. Offenbar hatte er noch in Erinnerung, dass diese defensive Haltung nicht überall gut ankam, auf jeden Fall empfand Schuster nach der erfolgreichen Saison 2014 den Zeitpunkt gekommen, um in die Offensive zu gehen. Das Trio Freund, Freitag und Andreas Wellinger trainierte im Sommer vielversprechend, die Schnellkraft-Messwerte, die Flug- und Landetechnik stimmten, es gab keinen Grund mehr, das Wort Titel prophylaktisch zu vermeiden.

"Wir sind eindeutig einen Schritt weiter, wir können das gewinnen", dachte Schuster, und er sagte es auch. In Garmisch-Partenkirchen aber musste er erkennen: "Bei einem besonderen Event ist die Stressresistenz eben noch nicht so weit." Am Ende kam wohl alles zusammen, "wie verhext" nannte es Schuster, und es ist egal, wo im Körper dieses Phänomen genau zu verorten ist.

Seine Springer wirkten cool wie immer, sie steckten auch den Ausfall von Andreas Wellinger scheinbar weg, sie sammelten immer mehr Selbstbewusstsein, aber dann setzten sich wohl doch die verbotenen überhöhten Gedanken irgendwo ab, nämlich dass jetzt die Favoriten-Chance endlich gekommen ist, die in der Presse, im Fernsehen, im Internet natürlich üppig dargelegt wurde. Und dass es jetzt gilt, nicht nur das eigene, sondern das gesamte jahrelange Skisprungprojekt des Verbandes zu vollenden.

Im Pressezentrum in Oberstdorf machen die Reporter schon länger Witze über die ewige Phrase, dass man auf der Auftakt-Schanze im Allgäu die Tournee nicht gewinnen, sehr wohl aber verlieren könne. Für Freund und Freitag war die Allgäuer Schanzenweisheit aber hochaktuell. Sportler anderer Disziplinen haben mehrere Versuche - Boxer können zurückschlagen, Sprinter haben immerhin knapp zehn Sekunden, Biathleten 20 Schuss. Ein Skispringer hat nur einen Schuss.

Etwas fehlt noch zum kompletten Athleten

Dafür muss man ihn nicht bemitleiden, der Nervenkitzel dürfte einen großen Teil der Motivation ausmachen. Keiner der Gescheiterten hat sich auch nur ansatzweise auf die Umstände berufen. Und deshalb hält Schuster auch an seiner offensiven Einschätzung fest. Er sagt zwar, dass diese Tage gezeigt haben, dass vielleicht doch noch etwas fehlt in der Entwicklung zum "kompletten Athleten" bei seinen Top-Leuten, aber er hat wohl auch erkannt, dass die innere Verkrampfung in der entscheidenden Zehntelsekunde des Tages X eben nur durch mehr Lebenserfahrung vergeht.

Die Saison ist erst zu einem Drittel vorbei, sagt Schuster, es gebe weitere Ziele. Den deutschen Rekord, den man auf den Skiflugschanzen brechen könnte, den Gesamtweltcup und schließlich - eine Einzelmedaille bei der WM in Schweden. Vom Titel sprach er erst einmal nicht.

© SZ vom 03.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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