Deutsche Nationalelf bei der Fußball-EM:Löws eigener spanischer Weg

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  • Joachim Löw hat konkrete programmatische Botschaften mitgeteilt. Eine davon: Die Außenverteidiger werden auch gegen Nordirland Hector und Höwedes heißen.
  • Der Bundestrainer verzichtet auf taktische Reformen. Dreierkette und Flügel-Angriffen erteilt er eine Absage.
  • Hier gibt es alle Tabellen und Ergebnisse zum Turnier in Frankreich.

Von Philipp Selldorf, Évian

Das Wetter in Évian-les-Bains? Wie jeden Tag: Auf den einen Quadratkilometer am Genfer See scheint die Sonne, auf den anderen regnet es hernieder, die mittlere Tagestemperatur liegt irgendwo zwischen irischen und nordirischen Werten. Dagegen die Vorhersage für Nizza: Sonntag Sonne, Montag Sonne, Dienstag Sonne, Mittwoch Sonne. Doch Oliver Bierhoff, der Quartiermeister, behauptet: "Wir sind sehr glücklich hier."

Auch gegen Nordirland sollen Hector und Höwedes verteidigen

Zwischen amtlichen Mitteilungen der DFB-Teamleitung und den tatsächlichen Zuständen tun sich gelegentlich Gräben auf, die größer sind als die Entfernung zwischen Évian und Nizza. Was aber die aktuelle Unterkunft am Genfer See betrifft (derzeit eher ein Art Loch Ness denn eine palmenbestandene Sommerfrische), gibt es bisher keine Hinweise auf Umzugsdebatten oder wetterbedingte Lagerkollerviren.

Für Zerstreuung sorgte am Wochenende der Bundestrainer: Während die Nationalspieler am Samstag einen freien Tag genießen durften, opferte Joachim Löw seine Freizeit, indem er sich vom Pressecorps befragen ließ. Etliche Themen, die aus den beiden Turnierauftritten gegen Ukraine und Polen hervorgingen, wurden diskutiert. Schon in der ersten Frage tauchte der Kampfbegriff "Krise" auf. Doch entweder haben die Reporter einen miesen Job gemacht oder Löws Laune ist tatsächlich so gut wie das Wetter in Nizza: Seine größte Enttäuschung schien darin zu bestehen, dass der Pressesprecher nach 50 Minuten die Veranstaltung für beendet erklärte.

Außer überraschend viel Heiterkeit verbreitete der Bundestrainer auch ein paar konkrete programmatische Botschaften. Eine davon lautete: Die Außenverteidiger werden auch gegen Nordirland Jonas Hector und Benedikt Höwedes heißen. So hat er das zwar nicht wörtlich, aber doch durch die Blume gesagt: Eingeleitet mit einer klaren Absage an die Einführung einer Dreier-Abwehrkette ("Gegen Nordirland kein Thema!"), vollendet mit seiner Antwort auf die Frage, ob ihn gelegentlich die Sehnsucht nach Philipp Lahm ergreife.

Da kam Löw zügig auf Höwedes zu sprechen und auf die Vorzüge, die der aktuelle Lahm-Nachfolger zu bieten habe: "Seriosität, solides Verteidigen, Kopfballstärke - der Benni Höwedes macht, was er machen muss".

Nicht enthalten in der Job-Beschreibung des Rechtsverteidigers sind tiefgreifende Flügelläufe, Tempodribblings bis zur Grundlinie und Flanken im Stil von Rüdiger Abramczik, was nur folgerichtig ist: Höwedes ist als Innenverteidiger zur Welt gekommen. Dennoch verblüfft diese Festlegung. In den Monaten nach dem Titelgewinn von Brasilien hatte Löw erklärt, die Mannschaft müsse sich zu einem gewissen Teil "neu erfinden", die Einführung der Dreierkette ins Repertoire der Nationalelf gehörte zu den wesentlichen Reformprojekten.

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Noch beim Test gegen Italien (4:1) hinterließ die Versuchsanordnung einen guten Eindruck. Sebastian Rudy agierte an der rechten Außenlinie und erhielt viele Komplimente. Doch Rudy, zwischen den Turnieren ständiges Kadermitglied, wurde von Löw in den Urlaub geschickt, als Alternative benannte er Joshua Kimmich. Diesen lobte er am Samstag nur auf der verdächtigen Basis von Allgemeinplätzen.

Im aktuellen EM-Kader sind nur zweieinhalb Flügelspieler

Auch mit Kimmich - als defensiver Mittelfeldspieler sozialisiert - würde das deutsche Außenbahnspiel keine spanischen Züge annehmen, weder in der Dreier- noch in der Viererkette. Doch Löw hat längst aufgehört, den alten Vorbildern nachzueifern. Spaniens souveränen Sieg gegen die Türkei (3:0) betrachtet er als Exempel für den hohen Standard des spanischen Spiels und die unverminderte spanische Klasse, aber ein Pflichtschulprogramm für seine Leute will er daraus nicht mehr machen.

Er hat einen eigenen spanischen Weg eingeschlagen, der sogar noch spanischer ist. Während die Spanier ihre offensiven Flügelpositionen ausgebaut und zum Wesensmerkmal in der Grundordnung entwickelt haben, forciert Löw das vorwiegend durch die Mitte führende und durch fantasievolle Laufwege praktizierte Passspiel.

Einerseits weil er dadurch auf den Mangel an stürmischen Außenverteidigern und Flügelstürmern reagiert, andererseits weil er auf die Qualitäten seiner Spitzentechniker vertraut. "Kroos, Özil und Götze sind starke Passspieler", sagt der Bundestrainer.

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Und Passspieler verkörpern seiner Ansicht nach die reale deutsche Fußballkultur der Gegenwart: Wenn man in Deutschland beim Training von Juniorenmannschaften zusehe, dann sehe man "wahnsinnig viel Passspiel", berichtete Löw - und vereint in dieser Beobachtung Positives und weniger Positives: Fortschritte bei der Entwicklung des Passspiels, das zur Zeit seiner Anfänge beim DFB "ein Desaster" gewesen sei. Zugleich die Vernachlässigung des individuellen Offensiv-Zweikampfs - "jetzt gibt es kein eins gegen eins mehr".

Solchen Überlegungen folgend, finden sich im aktuellen EM-Kader lediglich zweieinhalb Flügelspieler, die Stürmer Leroy Sané und André Schürrle und der vielseitige Hector. Auf berufsmäßige Außen-Spieler wie Marcel Schmelzer oder Karim Bellarabi verzichtete Löw mangels Zutrauen freiwillig. Mit Höwedes als Linksverteidiger, "sind wir Weltmeister geworden", sagte er am Samstag. Warum nicht also auch Europameister?

© SZ vom 20.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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