Brasilianer bei Hertha BSC Berlin:Der Größenwahn ist weg

Lesezeit: 3 min

Marcelinho, Alex Alves, Luizão und jetzt Raffael: Die sonderbare Beziehung zu Brasilianern ist ein Leitmotiv in der Klubgeschichte von Hertha BSC Berlin. Allerdings ist der Klub mittlerweile bodenständiger und sympathischer geworden.

Boris Herrmann

Diese Woche gab es wieder einmal ein schönes Foto von Ronny. Er hatte einen Bremsfallschirm umgeschnallt, in den Farben seines Arbeitgebers Hertha BSC. Der Schirm stand stolz im Wind, Ronny quälte sich derweil - nicht ganz so stolz - bei Sprintübungen über den Trainingsplatz. Eine Boulevardzeitung titelte: "Brasilianer speckt ab, weil er wieder Papa wird."

Derzeit einer der wichtigsten Akteure bei Hertha BSC: der Brasilianer Raffael. (Foto: dpa)

Dass Ronny, 25, zu viel Ballast mit sich herumträgt, ist in der Hauptstadt konsensfähig. Man hätte aber auch auf die Idee kommen können, dass seine Fallschirm-Diät mit seiner bisherigen Einsatzzeit im Bundesligateam von Trainer Markus Babbel zusammenhängt: null Minuten, sagt die Statistik.

Es kursierte ein wundersame Geschichte über diesen Ronny, als er im Sommer 2010 zur Hertha kam. Angeblich hat er in seinem früheren Leben mal einen Freistoß mit 210,9 Stundenkilometern abgefeuert, den härtesten Schuss der Welt. Sein Vater rundete diese Erzählung ab, indem er berichtete, Ronny habe dabei nur drei Zehen seines linken Fußes eingesetzt.

Gesehen hat diesen Schuss in Berlin niemand. Eine andere Geschichte ist, dass Hertha den Dreizehen-Techniker vermutlich nur deshalb verpflichtete, um Raffael zu einem Übergangsjahr in der zweiten Liga zu überreden. Raffael ist Ronnys Bruder.

Für einen Aufsteiger ist Hertha sehr respektabel in die Saison gestartet, fünf Spiele, acht Punkte. Das reicht, um in der Hauptstadt die üblichen Euphoriereflexe auszulösen, und aktuell gilt Raffael als Symbol der Glückseligkeit. Wenn man so will, hat er letzten Samstag Meister Dortmund im Alleingang abgeschossen.

Und selbst wenn man nicht so will, lässt sich kaum leugnen, dass er zuvor mit seinem Siegtor gegen Stuttgart eine dunkle Serie von 748 Tagen ohne Bundesliga-Heimsieg beendete. Gleichwohl ist es keine sechs Wochen her, dass derselbe Raffael als Symbol der Frustration galt.

Die Fußballgötter
:Die Krise des HSV

Der Hamburger SV steckt tief in der Krise - so sehr, dass die eigenen Fans nicht mehr an einen Sieg der Mannschaft glauben.

Guido Schröter

Zum Saisonstart saß er auf der Bank, Trainer Babbel mahnte: "Mitlaufen reicht nicht!", selbst über einen Vereinswechsel wurde spekuliert. Es wäre interessant, zu wissen, was Raffael selbst zu diesen bewegten Wochen zu sagen hat - zu seiner Krise, zu seiner Formexplosion, zu seinem Fallschirm-Bruder. Raffael aber mag gerade keine Interviews geben, auch vor dem Heimspiel am Samstag gegen den FC Augsburg war er nicht zu sprechen. Er schweigt. Und niemand weiß so recht wieso.

Exzentrischer Stürmer: der Brasilianer Alex Alves. (Foto: AP)

Es hat sich viel verändert bei der Hertha. Nach dem Machtwechsel von Dieter Hoeneß zu Michael Preetz ist der Verein erdiger, bodenständiger, auch sympathischer geworden. Der Größenwahn ist weg. Ein Leitmotiv aber hat sich wacker gehalten: die bittersüße Beziehung des Klubs zu seinen Brasilianern.

Es war im Januar 2002, als sich dieses Leitmotiv erstmals einem größeren Publikum offenbarte. Der Manager Hoeneß war zum Neujahrsempfang auf alles vorbereitet. Auf fast alles, jedenfalls. Sein sogenannter Königstransfer, der brasilianische Angreifer Alex Alves, war ja schon mal als Rotkäppchen verkleidet auf der Weihnachtsfeier erschienen.

Diesmal jedoch changierte das Kostüm des bis heute teuersten Einkaufs der Klubgeschichte (15,2 Millionen Mark) eher zwischen Gangsterrapper und Hafennutte. Zu seinem blondierten Haarsträußchen trug Alves einen schneeweißen Pelzmantel. Seine Lippen wirkten wie geschminkt, und im haarigen Dekolleté baumelte ein gigantischer Kettenanhänger in Form eines Kreuzes. An diesem Aufzug müssen sich bis heute alle brasilianischen Skurrilitäten in Berlins Fußball messen lassen.

Alex Alves, der Bruder von Barcelonas Rechtsverteidiger Dani Alves, gab stets sein Bestes, um den Pelz zu überbieten. Er hat sogar ein Schnitzelbrötchen berühmt gemacht. Weil es ihm versprochen war und nicht kam, brach er ein Fernsehinterview ab. Gleichzeitig, auch das gehört zum brasilianischen Leitmotiv, schoss Alves eines der spektakulärste Tore der Klubgeschichte - vom Anstoßpunkt, während die Kölner noch ihren eigenen Treffer bejubelten. Brasilien war für Berlin schon immer Fluch und Segen.

Bundesliga: Elf des Spieltages
:Forrest Gump aus Berlin

Der Berliner Raffael besiegt mit einem unendlichen Geradeauslauf Meister Dortmund, Bayern-Angreifer Gomez erzielt vier Tore - aber muss erkennen, dass diese Ausbeute für Europas Spitze nicht reicht. Und Stuttgarts Kuzmanovic zeigt einem Düsenjet, was Geschwindigkeit ist.

Die Elf des Spieltags

Hoeneß hat in seiner Zeit bei Hertha so enge Geschäftsbeziehungen nach Südamerika gepflegt, dass es sich für die Hauptstadtzeitungen zwischenzeitlich gelohnt hätte, ein Copacabana-Ressort einzurichten. Selbst das Maskottchen ist seither Brasilianer, es heißt Herthinho.

Den frisch verpflichteten Weltmeister Luizão ließ Hoeneß im Juli 2002 mit einem Hubschrauber zu einem Testspiel im Erzgebirgsstadion von Aue einschweben. Dort nahm der Stürmer gleich seinen Stammplatz ein - auf der Tribüne. Viel besser erging es auch Nene, Mineiro und André Lima nicht, ganz zu schweigen von den Transfers mit den trügerischen Namen Lúcio und Kaká.

Aber es gab auch jene Brasilien-Fraktion, die eher auf dem Platz überzeugte. Der seltsam unspannende Gilberto oder der umso spannendere Marcelinho, der zu gleichen Teilen als Ballartist, Frisurenmodel, Verkehrssünder und Partygott begeisterte.

Marcelinho ließ Großlieferungen von schwarzen Bohnen sowie seine gesamte Sippe einfliegen, am Wochenende tanzte er in seiner Stammkneipe Ipanema - nach und vor den Spielen. Hoeneß, der seinem Topverdiener nicht selten einen Not-Zehner zustecken musste, hat das zur Freude der Berliner Unterhaltungsbranche tapfer ertragen. Marcelinho war einer der begnadetsten und beliebtesten Spieler, die Hertha je hatte.

Ähnliches lässt sich auch über den schweigsamen Raffael sagen. Er hat im Vergleich zu seinen Vorgängern noch jede Menge Eitelkeiten und Marotten gut. Andererseits: Einen pummeligen Bruder mit Bremsfallschirm muss man einem Verein, der sich gerade von der Ära Hoeneß emanzipiert, auch erst einmal unterjubeln.

© SZ vom 17.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: