Bundesliga:Tuchel verpasst Dortmund ein Update

Lesezeit: 3 min

Tiki-Taka-Pässe kann man verteidigen, volle Individualwucht nicht: Für seine Ideen hat der BVB-Trainer nun genau die richtigen jungen Wilden.

Von Freddie Röckenhaus, Dortmund

Das Spiel war längst abgepfiffen, aber auf der Nordtribüne ging die Lilien-Party immer weiter. Die Anhänger von Darmstadt 98 waren gar nicht mehr zu bremsen, auch nicht, als ihre müden Spieler längst von dannen schlichen, von der 0:6-Niederlage im Dortmunder Stadion und den Strapazen der Abwehrschlacht gezeichnet.

Dem Lilien-Anhang ging erkennbar das Erlebnis über das Ergebnis. Sie hatten sich längst damit abgefunden, dass der BVB gerade wieder ein bisschen den Fußball neu erfindet - und vor allem, dass die eigene Elf dagegen machtlos war.

Dortmund machte nahtlos dort weiter, wo der Klub am Mittwoch zuvor im Champions-League-Spiel bei Legia Warschau aufgehört hatte. Auch da hieß es am Ende 6:0. Auch da hämmerte die Sprint- und Trickmaschine des umgebauten BVB auf den Gegner 90 Minuten lang fast ohne Pause ein. Klar, beide Sturm-und-Drang-Spektakel erfolgten gegen Gegner, die höchstens Mittelmaß darstellen. Aber auch gegen mäßige Gegner gelingt nur selten eine derartige Tempo-Show.

Dortmunds Thomas Tuchel ist weiterhin damit beschäftigt, das ehedem revolutionäre System seines Vorgängers Jürgen Klopp zu aktualisieren. Mit Ballbesitz, wann immer dieser möglich ist, und mit hohem Pressing, aber nicht als maschinelle Dauerübung, sondern als dosiertes Stilmittel. In der neuen Saison haben Tuchel, seine beiden Chefs Hans-Jochim Watzke und Michael Zorc sowie der BVB-Chefscout Sven Mislintat nun lauter junge Draufgänger geholt, die für etwas Anderes, Neues stehen. Eins-gegen-eins-Artisten, superschnell, immer auf der Suche nach dem nächsten Dribbling; Einzelgängertypen, deren individuelles Talent man in einen geordneten, disziplinierten Mannschaftsbetrieb hineinschmelzen muss.

Mehr als Passspiel à la Tika-Taka

Die Überschrift über Dortmunds zweites Jahr mit Tuchel lautet offenbar: Passspiel à la Tika-Taka kann man verteidigen, gegen ein ganzes Rudel wilder Individualisten aber kommt keine noch so tief stehende Abwehr zurecht. Tuchels neueste Variante setzt auf die gruppentaktische Leistung ein individuelles Feuerwerk obendrauf. Dafür hat er genau die richtigen jungen Wilden: Gegen Darmstadt imponierte A-Jugend-Spieler Christian Pulisic am Vorabend seines 18. Geburtstags wie der Raketenmann im Zirkus. Drei Torvorlagen, ein Treffer, ein Dribbling nach dem anderen.

Im Tricksen noch stärker: Ousmane Dembélé, 19, bisweilen völlig unberechenbar, manchmal auch für die eigenen Leute. Knapp dahinter auf dem Spielfeld: der Portugiese Raphaël Guerreiro, immerhin schon 22, mit strategischer Übersicht und eleganter Ballbehandlung, oft nur durch Foul zu bremsen.

Darmstadts Trainer Norbert Meier war die Ratlosigkeit anzumerken, als er das Geschehen unter Verweis auf einen Einwechselspieler zusammenfasste: "Und dann kommt noch dieser kleine Emre Mor rein und wirbelt da über das Spielfeld. So eine Qualität haben wir nun mal nicht." Mor ist 19 und kommt aus Kopenhagen. Das Tor zum 6:0 legte ihm Pulisic auf.

In Tuchels Plan haben gegen die allzeit überforderten Darmstädter weder die beiden verletzten Nationalspieler Marco Reus und André Schürrle gespielt noch Mario Götze. Dem BVB-Rückkehrer gönnte Tuchel eine Verschnaufpause, nach zwei Länderspielen und zwei BVB-Spielen in der Startaufstellung binnen zwei Wochen. Auch der sonst gesetzte Pierre-Emerick Aubameyang drückte 90 Minuten die Bank, um sich für das Spiel am Dienstag beim VfL Wolfsburg zu schonen.

Es geht im Fußballlabor schneller voran als gedacht

Tuchel bestätigte hinterher ganz nebenbei, dass man die jungen Leute genau für ihre Sprints und Dribblings und ihre bisweilen fast irrational wirkenden Lauf- und Passwege geholt habe. "Deshalb können sie spielen, weil wir genau das von ihnen erwarten. Und sie zahlen zurück."

Voriges Jahr konnte man Tuchel attestieren, dass er die von Klopp erfundenen, aber in die Jahre gekommenen Spielelemente erweitert hatte - vor allem mit einer großen Portion Guardiola-Fußball. Diesen bisweilen allzu mathematischen Ballbesitzfußball verschärft der BVB-Trainer jetzt gerade mit den bisweilen fast anarchischen Ideen seiner Individualisten. Unberechenbarkeit ist eben unberechenbar. Sie führt nicht immer zum Erfolg, sie birgt Risiken, aber das Programm, das der BVB gerade zeigt, birgt einen hohen Spaßfaktor.

Vor der Saison haben Dortmunds junge Wilde ein großes Fußball-Experiment versprochen. Im Augenblick scheint es, als würde es im Labor sehr viel schneller vorangehen als gedacht. In gut einer Woche heißt der nächste Champions-League-Gegner allerdings Real Madrid. Man wird sehen, wie weit die BVB-Experimente gereift sein werden, wenn es gegen Klasse-Gegner geht. Wird Tuchels Truppe dann eher naiv aussehen? Oder sind fußballerisch Verrückte wie Dembélé, Pulisic, Guerreiro, Mor oder Götze auch von viel besseren Gegenspielern in ihrem Tordrang nicht zu kontrollieren? Schon jüngst beim 0:1 in Leipzig ging da einiges schief, manches vielleicht auch deshalb, weil die eine, die erste Elf für Top-Aufgaben noch nicht gefunden war.

© SZ vom 19.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Fußball-Bundesliga
:"Meine Pobacke ist doppelt so dick wie vorher"

Mario Gomez hat ein Wehwehchen, Lewis Holtby versteht die HSV-Fans - und Franck Ribéry weiß, weshalb er nicht aufs Oktoberfest geht. Die Sprücheklopfer des Spieltags.

Von Carsten Scheele

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: