Bilanz des DFB-Spieljahres:Italiens Schatten verdunkelt bis heute die Atmosphäre

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Mit dem trüben 0:0 gegen die Niederlande hat die deutsche Nationalmannschaft ihr Länderspieljahr beendet. Die Bilanz 2012 fällt unentschieden und unentschlossen aus: Die Mannschaft wirkt noch immer verheißungsvoll, doch die Stimmung im Fußballvolk ist zwiespältig. Das verlorene EM-Halbfinale wirkt nach.

Philipp Selldorf

Hätte vor einem Jahr der Bundestrainer anstelle des Bundespräsidenten die Weihnachtsansprache ans Volk gerichtet, wäre das aus zwei Gründen angebracht und angemessen gewesen. Erstens hieß damals der Bundespräsident Christian Wulff. Zweitens war Joachim Löw der Mann, an dem sich das deutsche Volk erfreute.

Löws Mannschaft hatte einen Monat zuvor gegen die Niederlande gespielt und den Gegner beim 3:0-Sieg "in Grund und Boden gespielt", wie Torhüter Manuel Neuer wahrheitsgemäß sagte. Die Führungscrew des DFB-Teams machte sich Sorgen, dass die Stimmung im Land zu gut werden könnte. Als den Deutschen Portugal und Holland in die EM-Gruppe gelost wurden, freute sich Oliver Bierhoff, "dass die EM-Euphorie ein bisschen gedrückt wird".

Ein Jahr später wäre der Bundestrainer als Redner vor einer Präsidenten-Bücherwand möglicherweise weniger willkommen, und das liegt nicht daran, dass der eigentliche Präsident inzwischen Joachim Gauck heißt. Das Verhältnis zwischen Bundestrainer und Fußballvolk ist atmosphärisch getrübt. Seine Mannschaft strahlt immer noch verheißungsvoll, aber sie ragt aus dem kulturellen Leben nicht mehr so hervor wie vor einem Jahr. Im Alltag des Fußballs hat sie Konkurrenz bekommen durch die Champions-League-Dreifaltigen Bayern, Dortmund und Schalke.

DFB-Elf in der Einzelkritik
:Zweckentfremdeter Zwergensturm

Die meisten deutschen Spieler wirken von den extrem reservierten Niederländern unterfordert: Lars Bender ist eingekeilt im Mittelfeld-Dschungel, Marco Reus gibt den Mini-Vertreter von Chefstürmer Klose und Thomas Müller hat als Aufpasser keinen Spaß. Die deutsche Mannschaft beim 0:0 gegen die Niederlande in der Einzelkritik.

Carsten Eberts und Philipp Selldorf

Dass die Nationalelf nun im nächsten Spiel gegen Holland eine strenge Antithese zum umstrittenen 4:4 gegen Schweden formulierte, wird die zuletzt eher zwiespältige Stimmung im Publikum nicht gehoben haben - selbst wenn sich der Bundestrainer und seine Leute von dem freudlosen 0:0 sehr angetan zeigten. Wieder gab Manuel Neuer das passende Stichwort, als er das seltsame Lob erteilte, es sei "ein seriöses Spiel" gewesen. Die lebhafte Begeisterung der Trainer für die taktische Abwehrarbeit ihrer Spieler wirkte befremdend. Unter diesen Umständen sollten sie vielleicht den ohnehin ungeliebten November-Spieltermin besser dazu nutzen, sich zum strategischen Brett-Spiel im Wohnzimmer zu treffen.

Unentschlossen und unentschieden endet ein Länderspieljahr, in dem Löws Team bestätigt hat, dass es im Prinzip jeden Gegner beherrschen und besiegen kann - außer, wenn der Gegner Ibrahimovic oder Italien heißt und Löw sich spontan etwas Neues einfallen lässt. Die Begegnung mit Italien bei der EM bleibt der Meilenstein des Jahres, seine Schatten reichen in die Gegenwart. Vermutlich wird die Erinnerung an Italien sogar noch bei der WM in Brasilien die Gemüter quälen. Aber dazu muss man sich erst mal gegen Zlatan Ibrahimovics Schweden qualifizieren. Womöglich könnte ein unseriöses 4:3 im Rückspiel die Stimmung wieder heben.

© SZ vom 16.11.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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