Sprachlabor (69):Tonnenschwer realitätsnah einsetzen

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SZ-Redakteur Hermann Unterstöger denkt über "herziehen" und Worte im Alltagsgebrauch nach.

WER IM WÖRTERBUCHunter tonnenschwer nachsieht, wird auf zentnerschwer verwiesen. Das wiederum bedeutet "mit einem Gewicht von einem od. mehreren Zentnern", woraus folgt, dass ein tonnenschwerer Gegenstand einen od. mehrere Tonnen wiegt. Insofern ist nicht völlig verkehrt, was bei uns zu lesen stand, nämlich dass der Schnellzug, durch den bei Barcelona zwölf Menschen ums Leben kamen, tonnenschwer gewesen sei: Schon der "Adler" von 1835 hatte eine Leermasse von 11,4 t. Dennoch liegt uns kiloschwer auf der Seele, was Leser K. dazu sagt. Er sagt, man solle die Bezeichnung tonnenschwer realitätsnah einsetzen, beispielsweise für abstürzende Teile von barocken Kirchengewölben, nicht aber für herunterkommende Felswände oder berstende Autobahnbrücken. Im übrigen seien, fügt er hinzu, in Spanien die Züge noch schwerer als hier, weil dort auf Breitspur gefahren werde.

Fachbücher des Duden-Verlages. (Foto: ag.dpa)

IN DER FRAGE, ob das Perfekt von herziehen (im Sinn von über jemanden/etwas böse reden) mit haben oder sein gebildet wird, schweigen sich manche Wörterbücher völlig aus. Andere lassen sowohl "Er ist" als auch "Er hat über seinen Nachbarn schlimm hergezogen" gelten, rücken dieses Verb konjugationstechnisch also in die Nähe von liegen, sitzen und stehen, deren Perfekt in Norddeutschland anders gebildet werden kann als in Süddeutschland: "Ich habe/bin schon im Bett gelegen." Unser Leser H. ist in diesem Punkt etwas rigoroser. Als er bei uns im Blatt las, dass ein Regensburger Braumeister über andere Biermarken hergezogen habe, fragte er sich, ob der Mann denn diese Biere im Träger hinter sich hergezogen habe, ehe er über sie hergezogen sei.

GEFLÜGELTE WORTEneigen dazu, im Alltagsgebrauch ein Eigenleben zu entwickeln, für das sie nicht geboren wurden, etwa wenn der Lehrer einen Spickzettel entdeckt und zum Schüler sagt: "Sieh da, sieh da, Timotheus!" Bei uns wurde kürzlich über die flüchtige Zeit räsoniert und zur Untermauerung dessen behauptet, Faust habe den Augenblick angebettelt: "Verweile doch, du bist so schön." Diesen Augenblick nutzte Leser R., um aus Faust I (aus Faust II übrigens auch, aber das führt hier zu weit) heraus zu belegen, dass der Doktor Faust den Augenblick keineswegs anfleht dazubleiben, sondern dass er ihn von Herzen verachtet: Sollte er je zu ihm "Verweile doch usw." sagen, dann möge ihn der Teufel holen. Wie man sieht, kennt Herr R. seinen Goethe. Möglicherweise hat er, ehe er die Mail schrieb, sogar für sich gesagt: "Wohl kenn' ich Irlands Königin."

© SZ vom 09.07.10 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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