Sprachlabor (145):Ein vielschichtiges Wort

Lesezeit: 2 min

SZ-Redakteur Hermann Unterstöger erklärt die Bedeutung einzelner Buchstaben und fordert Denker heraus.

"SO VIEL Kenntnis der deutschen Sprache sollten Berufsjournalisten schon haben", schrieb Leser J., nachdem er bei uns gelesen hatte, was Klaus Wowereit unlängst ans Herz gelegt worden war: dass er den Flughafen Tempelhof "auflassen" solle. Halten zu Gnaden, Herr J., möchte man da sagen, aber erstens war das ein Zitat, das man auch bei einem Wowereit nicht ohne Grund ändert, und zweitens ist das Wort auflassen nicht so einschichtig, wie man glauben möchte. Selbstverständlich meint es auch stilllegen, schließen und auflösen, aber ebenso gut kann man es für offen lassen verwenden: lass doch bitte die Tür auf. Der Duden nennt noch ein paar weitere Bedeutungen: aufbehalten (den Hut), aufbleiben lassen (die Kinder), in die Höhe steigen lassen (Ballons) und schließlich, aus der Sprache der Notariate geläufig, übereignen (zwei Hektar Wald).

Fahrradfahrer fahren jetzt auf der Tempelhofer Freiheit in Berlin. Die Parkanlage auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof wird von vielen Berlinern für sportliche Aktivitäten genutzt. (Foto: dpa)

DASS ADOLF HITLER ein Schreihals und Krawallant war, weiß man hinlänglich, aber dass er, wie es in einer von Leser B. gerügten Bildunterschrift hieß, in ein Buch "krakeelt" hätte, kann man ihm denn doch nicht nachsagen. Was so ein Buchstabe nicht ausmacht, ach und weh beziehungsweise, mit Loriot zu reden, krawehl, krawehl!

ERWÜRGEN, und noch dazu mit dem Schwert: Das kommt in der Bibel vor und wurde bei uns mit einigem Staunen wiedergegeben. Unser Leser Sch. verfügt über ein weitaus üppigeres Wortschatzgedächtnis. Er erinnert nicht nur an die Ballade von der "Bürgschaft", in der Friedrich Schiller gleich zweimal erwürgen statt töten schreibt, sondern verweist auch auf Martin Luther, der es generell so hält. In der Tat verwendet Luther, wie bei Grimm nachzulesen, das Wort 180-mal, freilich nie in so schöner Reimpaarung wie Schiller: "Mich, Henker", ruft er, "erwürget! / Da bin ich, für den er gebürget!"

EIN GANZ GROSSES FASS macht unser Leser B. auf, und zwar im Zusammenhang mit dem Realitätsverlust , der bei uns und in anderen Blättern nicht nur zu freigebig, sondern auch fälschlich attestiert werde. Realitätsverlust setzt seiner Ansicht nach eine "allein maßgebliche Realität" voraus. Die gebe es nicht, wohl aber "so viel Realitäten wie Menschen auf der Erde". Diese Kolumne ist zwar kein philosophisches Kolloquium, aber ein wenig wagt sie sich aus der Deckung. Wohlan denn: Wenn man unter Realität das versteht, was gemeinhin darunter verstanden wird, nämlich die Summe des in der Wirklichkeit Vorkommenden, dann kann man einem, der sich darin nicht mehr zurechtfindet, doch einen gewissen Realitätsverlust bescheinigen. Ist das richtig oder falsch? Denker, heraus!

"SIE, LIEBER HERR U.", schrieb Leserin A., "zahlen Einkommensteuer und nicht Einkommenssteuer." Weiß Gott, möchte man antworten, und nicht zu wenig, doch darauf kam es Frau A. überhaupt nicht an. Sie wollte vielmehr wieder einmal das allgemeine Interesse auf das Fugenzeichen alias -element richten, das dafür sorgt, dass zusammengesetzte Wörter geschmeidiger ausgesprochen werden können: Zeitungsjunge statt Zeitungjunge. Anders als sonst in der Grammatik üblich, gibt es dafür keine durchgängigen Regeln, was sich mit Beispielen wie Himmelreich vs. Himmelsbahn oder Fleischsalat vs. Fleischeslust locker belegen lässt. Frau A. wies fürsorglich darauf hin, dass alle Steuerarten ohne Fugen-s zu schreiben seien, eine Übereinkunft, an die sich die Kolleginnen und Kollegen von der Wirtschaft üblicherweise halten. Ohne der Gesetzlosigkeit Vorschub leisten zu wollen, sei indes dazu geraten, sich im Alltag um diese enge Regelung einen Dreck zu scheren.

© SZ vom 14./15.04.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: