Staats-Song:"Country Roads" wird offizieller Song West Virginias

Lesezeit: 5 min

Sänger John Denver starb 1997 bei einem Flugzeugabsturz. Sein Lied "Country Roads" ist weltberühmt. (Foto: DPA)

West Virginias Parlament hat "Country Roads" zum offiziellen "State Song" erklärt. Das weltberühmte Lied von John Denver soll das Image eines Bundesstaats aufbessern, dem es ansonsten ziemlich schlecht geht.

Von David Hesse, Berkeley Springs

Dienstagabend, die erste Woche der langen Sommerferien. Ein Dutzend Teenager sitzt im Musikzimmer der stillen Berkeley Springs High School, hantiert an Tubas, Hörnern, Kesselpauken. Die Marschmusik probt auch in der unterrichtsfreien Zeit, denn bis zur großen Apfelmus-Parade im Oktober müssen die Songs sitzen. Auch den Indians, dem nur mäßig erfolgreichen Football-Team der Schule, soll ab Herbst wieder musikalisch beigestanden werden. Ian Helmick, Kapellmeister in Turnschuhen, verteilt die Notenblätter. Ein bisschen Disney, ein bisschen Brahms - und jetzt neu auch Country Roads. "Es ist wunderbar, dass unsere Politiker das Lied jetzt offiziell zur Hymne gemacht haben", sagt Helmick. Nun werde es fest ins Repertoire aufgenommen.

Eigentlich liegt Berkeley Springs näher an der Interstate Nummer 70 als an wirklich beschaulichen Landstraßen. Trotzdem, die kleine Bäderstadt gibt sich idyllisch. Hier holt sich die Bevölkerung noch frisches Quellwasser am zentralen Brunnen, wird das Programm im Star-Cinema noch von Hand auf Schilder gemalt. Ganze drei Ampeln regeln den Verkehr im Ort. Ein bisschen, ist einem schon vor der Fahrt beschieden worden, ist die Zeit in West Virginia stehen geblieben.

Bildband "America"
:Im modernen Western

Wenn Unauffälliges in den Mittelpunkt gerückt wird und Touristenattraktionen zur Kulisse verkommen: Horst Hamann fotografiert in "America" unspektakuläre Szenen, in denen man einige Überraschungen entdecken kann.

Von Stefan Fischer

Jeder in West Virginia kennt den Text

Auch Country Roads ist nicht mehr taufrisch, sondern mehr als 40 Jahre alt. Es ist das wohl meist gesungene Lied des Staates, erklingt an Dorffesten und in Kneipen, zu Hochzeiten und Sportanlässen, seit 1972 etwa nach jedem Heimspiel der West Virginia Mountaineers, der Uni-Footballmannschaft in Morgantown. "Der Song bricht gleichsam spontan aus uns heraus, wann immer es uns gut geht", erklärt Ken Sullivan, der letztes Jahr eine dicke Enzyklopädie zu West Virginia herausgegeben hat. Der Eintrag zu "Country Roads" darin bemerkt, das Lied werde "im ganzen Staat stolz gesungen". Wirklich jeder hier kenne den Text, sagt Sullivan, könne einstimmen, Teil des Liedes werden - auch die Jungen. "Ich liebe diesen Song, ich habe ihn auf meinem Handy", sagt der 16-jährige Logan, Trompeter im Schulorchester Berkeley Springs. Und Flötistin Melissa pflichtet bei: "Ich kann jede Zeile auswendig. Country Roads gehört zu uns."

Jetzt auch offiziell. Im März hat West Virginias Parlament Country Roads zum "State Song" erklärt. Damit erhält die Weise amtlichen Charakter, kann zu Beginn von Ratssitzungen oder bei Empfängen gespielt werden. Nun ist die Regierung auch verpflichtet, eine korrekte Text- und Notenfassung für die Nachwelt aufzubewahren. Für die Bevölkerung aber ändert sich nichts: Sie darf singen, wie sie will.

Der Bergstaat hat gleich vier Lieder

Alle 50 Bundesstaaten der USA haben einen State Song - das gehört zum politischen Inventar. Neben einer Hauptstadt (in West Virginia: Charleston), einer Flagge (Bauer und Grubenarbeiter auf weißem Grund), einem Motto ("Bergbewohner sind immer frei") und einem Staatsvogel (roter Kardinal) soll auch ein Lied vorhanden sein, mit dem das Land besungen werden kann. West Virginia gönnt sich dabei mehr als die meisten: Country Roads ist bereits der vierte offizielle Song des Bergstaates, wobei allerdings die ersten drei Lieder nicht ansatzweise so bekannt sind.

Vier Lieder, das ist unüblich. "Es wird zweifellos die Schönheit unseres Staates sein, die vermehrt zum Komponieren anregt", kommentiert trocken Betty Cutlip von der staatlichen Tourismusstelle. Wenigstens hier genießt West Virginia ein wenig Überfluss, ansonsten herrscht ja eher Knappheit: Zu wenig Einkommen, zu wenige Jobs, zu wenig Vitamine. Der Staat führt in fast allen Disziplinen die nationalen Negativstatistiken an, ist einer der ärmsten und dicksten des Landes, hat die höchste Rate an Zahnlosen und einen der höchsten Raucheranteile. Hinzu kommen die Probleme mit den toxischen Chemiewerken und den kohlebeheizten Kraftwerken, die Mensch und Natur zusetzen, aber wichtige Arbeitgeber sind. Das Image des Staates ist prekär; West Virginia steht in ganz Amerika für weiße Armut, wüstes Leben, ewiggestrige Hillbillys. Der Jugendsender MTV zeigte letztes Jahr eine eigene Reality-Show ("Buckwild") über die angeblich primitiven Hinterwäldler-Kids von hier. "Es tut weh, manchmal, was die Leute sagen", sagt Kapellmeister Ian Helmick und beißt sich auf die Lippen.

Um so mehr will man sich an die schönen Dinge halten. In Country Roads ist West Virginia ein Paradies: "Almost heaven, West Virginia." Der Song ist eine Liebeserklärung an Hügel und Wälder - und an die Landstraßen, die dahin führen. Das rührt die Bevölkerung: "Wir sind der Ansicht, dass der Liedtext das Richtige sagt über uns. Wir sind einverstanden", sagt der Enzyklopädist Sullivan.

Geschrieben hat die Nummer der verstorbene Folk-Sänger John Denver, zusammen mit einem Profi-Songwriter-Pärchen aus Washington. Keiner der drei stammte aus West Virginia; John Denver ist in Neumexiko geboren, unter dem Namen Henry Deutschendorf. Als Sohn eines Air-Force-Piloten war er dann viel im ganzen Land unterwegs, und vielleicht entwickelte er deshalb eine Sehnsucht nach dem Daheimsein: "Take me home, Country Roads."

Als der Song im Jahr 1971 herauskam und hoch in der Hitparade aufstieg, waren die Liedermacher noch nie in West Virginia gewesen. Das merkt man dem Text an: Country Roads singt von den Blue Ridge Mountains und vom Fluss Shenandoah - beide befinden sich praktisch vollständig im Nachbarstaat Virginia, jenseits der Grenze. "Leider hatte John Denver keine Ahnung von Geografie", sagt der Musikhistoriker Travis Stimeling von der Universität in Morgantown. Oder vielleicht seien den Liedermachern die Namen "Blue Ridge" und "Shenandoah" einfach poetischer vorgekommen als die hiesigen Alleghany Mountains und der Monongahela River.

Ein Lied über Heimweh

Egal: West Virginia hat den Song adoptiert. Irgendwann spielte die eigentliche Textbedeutung keine Rolle mehr, wie so oft bei guten Volksliedern. Durch die Strophen, sagt Stimeling, mogeln sich die Leute eh nur durch; es geht um den Refrain: "Der lädt ein zum Johlen." 1980 durfte John Denver selber nach Morgantown kommen und mit Country Roads einen neuen Sportplatz eröffnen. Es wurde ein umjubelter Auftritt. Als er 1997 mit dem Flugzeug abstürzte, hat West Virginia um ihn getrauert.

Der Erfolg von Country Roads beschränkt sich natürlich nicht nur auf die Region; man kann dem Song in ganz Amerika, ja in japanischen Karaokebars und deutschen Einkaufspassagen begegnen. Etliche Musiker haben auch versucht, das Lied seinen Bergen zu entreißen und daraus Reggae-Versionen ("West Jamaica") oder hawaiianische Säuseleien ("West Makaha") zu machen. Keine Chance: Die originalen Country Roads bleiben in West Virginia - und rufen von dort den Wanderer heim. In einem hat John Denver den Staat trotz aller Unkenntnis sehr gut getroffen. Sein Lied handelt vom Heimweh, von der Sehnsucht des Exilanten: "Radio reminds of my home far away." In West Virginia hat das besondere Resonanz. Der Staat hat viele Auswanderungswellen erlebt, immer wieder zu wenig Arbeit für seine Söhne und Töchter gehabt. Schon der erste State Song, die West Virginia Hills von 1885, war ein Heimwehlied. Country Roads reiht sich ein in eine Tradition.

Nun muss die Nummer nur noch sitzen. "Bitte laut nach vorne spielen, ohne Angst." Kapellmeister Helmick schärft es dem Ensemble ein. "Denn wenn ihr schüchtern spielt, dann klingt es falsch - sogar dann, wenn ihr ganz richtig lagt." Lieber selbstbewusst falsch als vor lauter Vorsicht kläglich. Die jungen Musiker nicken, setzen ihre Instrumente neu an. Helmick gibt den Takt vor: "Und von vorne, ab nach Hause: Country Roads, take me home."

© SZ vom 21.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: