Spanien: Jakobsweg (SZ):Die Lockungen der weißen Schönheit

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Wo heute wieder Tausende zum Grab des Heiligen Jakob pilgern, hat im Mittelalter die Utopie Europa schon bestens funktioniert.

Gottfried Knapp

(SZ vom 26.6.2001) - Sechs Tage auf dem spanischen Jakobsweg, sechs Tage auf einem uralten europäischen Kultur- und Glaubenspfad, für den die Menschen früherer Zeiten Monate, ja oft Jahre veranschlagten; sechs Tage als Gast einem Phänomen auf der Spur, das ein abenteuerliches Knäuel christlicher Legenden vor sich herträgt und doch deutlich eingebettet ist in das heutige Alltagsleben und das Kultur- und Wirtschaftsgefüge eines europäischen Landes - da lassen sich zwangsläufig nur flüchtige, zufällige Beobachtungen weitergeben; doch sie summieren sich zu einem Mosaik höchst eigenwilliger Prägung.

Das vielfältig schimmernde Grün geht in Galizien nie aus. (Foto: Foto: Archiv)

Frühling in Nordspanien. Alle Vorstellungen von der wüstenhaft ausgetrockneten iberischen Halbinsel werden gründlich korrigiert. Auf unserer 1000 Kilometer langen Fahrt von den Pyrenäen bis nach Santiago geht das vielfältig schimmernde junge Grün nie aus.

Wir haben bei dichtem Hochnebel das französische Baskenland hinter uns gelassen, nähern uns dem Ibañeta-Pass und wandern schließlich bei herrlich klarem Himmel durch üppig wogende Laubwälder hinunter zum Kloster Roncesvalles, wo der Paladin Roland im Jahr 778 das christliche Abendland gegen die finsteren Mächte des Heidentums verteidigt haben soll.

Aus jeder freien Stelle im Wald quillt es dem Wanderer goldgelb entgegen: Der Ginster feiert seinen jährlichen Triumph; ganze Bergflanken sind gelb überschäumt. Erst unten im Kulturland von Navarra, wo silbrig-grünes Getreide zwischen dunkel bemützten Hügeln hin-und herwogt, verliert sich die gelbe Spur.

Ein ganz anderer, tief sonorer Farbakkord dann in Rioja, Spaniens berühmtester Weinlandschaft. Dort ist die stierblutrote Erde einheitlich grün gestreift: Stark beschnittene, niedrige Rebstöcke mit muskulösen Stämmen strecken ihre Triebe exakt in eine Richtung; sie bilden lange Reihen, die sich über Hügel und Senken ziehen. Dazwischen dunkelgrüne Bänder: Bäche mit ihren überwucherten Ufern; und immer wieder farbige Inseln aus rotem Klatschmohn, blaublühenden Disteln und weißen Margeriten.

Die schneebedeckten Gipfel der Sierra

Noch zweimal wird uns die Natur auf dem Pilgerweg überwältigen. Bei der Fahrt hinauf zum Rabanalpass scheint die Vegetation langsam, aber unaufhaltsam zu verkümmern, die Bäume zwischen den Steinmauern schrumpfen, die Wälder verkrüppeln. Man fühlt sich in keltische Regionen, nach Irland oder Schottland versetzt. Oben auf der Passhöhe wogt mannshohes blühendes Erikagestrüpp im Wind; darüber die schneebedeckten Gipfel der nahen Sierra - ein Bild von archaischer Schönheit.

Schließlich die Schicksalsetappe des Jakobswegs: der erbarmungslose Anstieg steil hinauf zum 1300 Meter hohen Cebreiro, wo eine winzige Kolonie von Steinhütten und ein paar einfache Herbergen auf die Pilger warten.

Der alpinistische Aufstieg, der vor allem im Sommer zur blanken Strapaze ausartet, erfährt durch die gigantischen Brückenbauwerke der Autobahn Madrid-La Coruña, die den in der Enge des Tals sich windenden Weg in schwindelnder Höhe überqueren, seine zynische Kommentierung.

Demnächst werden die Autofahrer hier in einer Zeit über den Gebirgszug katapultiert, in der die Pilger zu Fuß gerade mal ein paar hundert Meter schaffen.

Oben auf der Passhöhe in der Taverne sitzen wir der wohl bizarrsten Figur unter den pilgernden Individualisten gegenüber. Schon rein äußerlich musste einem die Engländerin mit dem kleinen asymmetrischen Schnauzbart aus Schnupftabak ins Auge fallen.Sie war von Santiago aus 150 Kilometer mit dem Taxi auf den Pass gefahren, um die Asche ihres Mannes dort auf dem Jakobsweg zu verstreuen, wo sie bei früheren Begehungen am meisten Schweiß vergossen hat.

Ob es wirklich nur Tabak war, was sie mit sichtlicher Wonne in die Nase zog, wollten wir lieber nicht ergründen.

Aus Frankreich, wo die drei Hauptwege der europäischen Jakobs-Pilgerbewegung von einem grandiosen Kirchen- bau zum nächsten führen, sind Baumeister und Bildhauer mit den Spitzen von Adel und Kirche durch das damals dünn besiedelte nördliche Spanien gezogen und haben die kirchlichen Einrichtungen am Weg mit Bildwerken von europäischem Rang geschmückt.

Schon die erste Kirche auf spanischem Boden, die Klosterkirche von Roncesvalles, gibt mit ihrer ganz in Glas aufgelösten frühgotischen Chorpartie eine Ahnung von der spirituellen Qualität der Diaphanie, wie sie kurz vorher im Herzen Frankreichs entwickelt worden ist.

Kirchen, die zweckenthobene Schönheit verkörpern

Ein Stück weiter verblüfft die frei im Feld stehende romanische Kuppelkirche von Eunate die Besucher mit dem raffinierten Ineinander mehrerer ungleicher Oktogone: Um die achteckige Kapelle und das halbierte Achteck ihrer Apsis ist ein achteckiger offener Bogengang gelegt, der in seiner zweckenthobenen Schönheit auf eine höchst elitäre Bauherrschaft schließen lässt. Im Städtchen Puente de la Reina, wo die beiden aus Frankreich kommenden Jakobswege sich vereinen, geben die grandios ornamentierten romanischen Stufenportale der beiden Hauptkirchen - sie sind jeweils exakt auf den "Camino", den Pilgerweg, das Maß aller Dinge, ausgerichtet - einen großartigen Eindruck von der bezwingenden schöpferischen Kraft, die damals diese Aorta des europäischen Geisteslebens durchpulst hat.

Auch der expressionistisch übersteigerte riesige Gabelkruzifixus, den ein Pilger im 14. Jahrhundert aus dem Rheinland hierhergebracht hat, zeigt noch einmal, wie selbstverständlich damals die Utopie, die wir heute Europa nennen, funktioniert hat.

In den letzten Jahren hat nicht nur eine rapide wachsende Zahl von Pilgern aus aller Welt das "Jakobsfieber" verspürt, auch die Tourismusbehörden Spaniens haben etwas von der wieder erwachten Anziehungskraft des spirituellen Pols im äußersten Westen Europas und von den kommerziellen Dimensionen der sich formierenden Massenbewegung begriffen und an vielen Stellen den alten Pilgerweg wieder begehbar und mit einem System von gelben Pfeilen kenntlich gemacht.

Doch zwischen den rekultivierten Partien gibt es immer noch hässliche Strecken, wo sich der "Pfad" auf vielbefahrenen Fern- oder Ausfallstraßen dahinschleppt. Im Zuge der Revitalisierungsarbeiten entlang dem "Camino" sind auch ein paar verbaute Kirchenräume in ihren spektakulären Urzustand zurückversetzt worden.

Der langsame Rhytmus der Etappenstationen

Im Etappenort Santo Domingo de la Calzada, der eines kruden "Hühnerwunders" wegen besondere Popularität genießt, ist bei Restaurierungsarbeiten in der reich ausgestatteten Kathedrale der überirdisch schöne romanische Chorumgang, der total hinter einer manieristischen Hochaltarwand verschwunden war, wieder ans Licht geholt worden.

Und in der Dorfkirche von Frómista haben die Restauratoren eine romanische Basilika von seltener Vollkommenheit aus dem provinziellen Verhau der letzten Jahrhunderte geschält.

Wer den Weg zum Grab des Heiligen Jakobus ganz zu Fuß bewältigt und sich dem Rhythmus der weit auseinanderliegenden Etappenstationen und Pilgerherbergen anvertraut, also pro Tag 25 bis 30 Kilometer zurücklegt, der hat zwar genügend Zeit zur Einkehr und zur Besinnung; er wird die Entdeckung der Langsamkeit in all ihren erschöpfenden wie animierenden Aspekten genießen können, doch er wird nach der schweißtreibenden Knochenarbeit abends kaum noch die Energie für ergiebige Stadtrundgänge aufbringen.Was ihm in den größeren Städten am Weg -in den Wallfahrtsorten der Kunstpilger -entgeht, sei hier bruchstückhaft angedeutet.

Burgos hat eine Schauseite, die den alten französischen Einfluss bis heute konserviert. Gestutzte Platanen auf der Uferpromenade, einheitlich steingraue Hausfassaden dahinter und darüber das gewaltige Massiv der gotischen Kathedrale mit den Doppeltürmen - eine so perfekte Miniatur der Pariser Wahrzeichen gibt es nicht einmal im zentralistischen Frankreich. Doch dringt man ein in die Altstadt, verliert sich die französische Illusion rasch. Beim Versuch, die fast allseits umbaute Kathedrale zu umschreiten, durchstreift man beträchtliche Teile der Altstadt und steigt über mehrere Plätze bergan, von denen sich immer wieder grandiose Durchblicke auf die aberwitzigen steinernen Spitzenklöpplereien des Vierungsturms und der Chorkapellen auftun.

Nimmt man zusammen, was in diesen Kapellen und im Kreuzgang der Kathedrale, in den Museen und in den großen Klöstern der Stadt an bedeutenden Kunstwerken aufbewahrt wird, dann hat man einen beträchtlichen Teil dessen beisammen, was auf spanischem Boden in den delirierenden letzten Tagen der Gotik an Weltkunst geschaffen wurde.

Auch Leon, die alte Hauptstadt von Kastilien, prunkt mit einer quasi aus Frankreich herüberversetzten gotischen Kathedrale. Doch hier tritt die Stadt mit ihren Häusern so weit vom Bau zurück, dass die "weiße Schönheit" mit ihrer Doppelturmfassade, den prächtigen Portalen und dem prominent instrumentierten Querschiff einen Auftritt von fast einzigartiger Festlichkeit hat.

Die koloristische Magie der alten Glasfenster im Inneren wird in der Dämmerung draußen fast noch übertroffen, wenn hinter den zierlich durchbrochenen, im Scheinwerferlicht weiß aufleuchtenden Giebelwänden der Abendhimmel alle Stufen des Azurs durchmisst.

Den besonderen Reiz der kleinen Stadt Astorga kann man in ein einziges Bild fassen. Über der gut erhaltenen römischen Stadtmauer ragt eine schön proportionierte gotische Kathedrale frei in den Himmel.

Zur unvergleichlichen Stadtkrone wird das Ensemble aber erst durch den Bischofspalast, der, im rechten Winkel zur Kirche stehend, deren Außenform mit Türmen, Apsiden und Querschiff in jugendstiligen Formen exakt nachmodelliert. Großmeister Antoni Gaudí hat diese verblüffende Hommage an das Mittelalter zu einer Zeit inszeniert, als er selber noch in den heroischen alten Zeiten nach dem Neuen suchte.

Schließlich Santiago de Compostela. Die riesigen Erwartungen, die sich im Lauf einer so eindeutig zielgerichteten Reise aufbauen, sie werden durch das Ziel - die Stadt und die Kirche des Heiligen - keineswegs enttäuscht.

Der mittelalterliche Kern mit seinen engen Gassen und mit der einzigartigen Folge von Plätzen und Treppenanlagen rund um den Chor der Kathedrale ist eines der reizvollsten stadträumlichen Labyrinthe der iberischen Halbinsel.

Umso grandioser wirkt der verschwenderisch ausladende, in der Barockzeit dem Hang abgetrotzte und mit Prachtbauten ausstaffierte Platz vor dem Hauptportal der Kathedrale, der in dem vierläufigen Freitreppenkunstwerk und der üppig prunkenden Doppelturmfassade seine triumphale Krönung findet.

Santiago, das ersehnte Pilgerziel

Wer dort hinaufsteigt, hat das eigentliche künstlerische Wunder der Stadt aber noch vor sich. Hinter der vorgeblendeten barocken Fassade haben sich in der spätromanischen Vorhalle die überlebenswirklichen Reliefs und Halbfiguren des Portico de la Gloria in einzigartiger Frische erhalten.

Der Reichtum der individuellen Ausdrucksgesten und die poetische Lebendigkeit, mit der etwa am Mittelportal die im Halbkreis des Bogens sitzenden Ältesten der Apokalypse ihre Musikinstrumente für das Himmelskonzert stimmen, sind schlicht überwältigend. Die unverstellte romanische Architektur dahinter mit dem ausladenden Querschiff und den umlaufenden monumentalen Emporen erfüllt alle Träume von einer Architektur der reinen Formen.

In die vierte Dimension steigt aber auf, wer das Glück hat, eine Führung über die Steindächer der Kathedrale mitmachen zu können. Von dort oben kann man die 140 Türme der Stadt zwar nicht alle erkennen, doch man kann physisch nachvollziehen, wie dicht die Niederlassungen der zahlreichen großen Klosterorden hier im Stadtbild zusammengeschoben sind.

Santiago ist eines der drei wichtigsten Pilgerziele der gesamten Christenheit; doch es erschöpft sich keineswegs im Dienst am Jakobskult. 40000 Studenten sorgen dafür, dass auch in den Wintermonaten, wenn es fast täglich regnet und Pilger nur vereinzelt eintrudeln, das Leben in den Straßen weitergeht.

Zu leben verstehen die Gallegos - die Bewohner des äußersten Nordwestens Spaniens - auf eine sehr überzeugende regionale Weise. In den Fjorden, die tief ins felsige Land eingreifen, und in den flachen Buchten gedeihen Austern und bestimmte seltene Muschelarten ganz vorzüglich.

Die Märkte sind voll von Fisch und allen Sorten Gemüse. So wollen auch wir unsere kurze Hetzjagd durch Nordspanien mit einem einschlägigen galizischen Mahl krönen: mit scharfer, roter Chorizo-Wurst, frischen, prallen Felsenmuscheln und kurz gegrillten grünen Zwergpaprikas, mit schwarzem Tintenfisch-Risotto, Schafskäse und einem jener frischen galizischen Weine, die außerhalb Spaniens bislang kaum bekannt sind.

Ankommen im Land der Verheißung - auch kulinarisch ist das in Santiago jederzeit möglich.

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