Reisen in Deutschland: Berlin:"Ist die Fliege da auch Kunst?"

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In der blühenden Berliner Galerien-Szene helfen spezialisierte Führungen dabei, die Kunst auch als solche zu erkennen.

Eine junge Russin aus der Reisegruppe bleibt vor einem Altbau in Berlin-Mitte stehen: "Ist das Kunst?", fragt sie. An Wäscheleinen vor der abbröckelnden Fassade hängen Dutzende türkis-farbene Tücher. "Nein, das ist keine Kunst", sagt Kunsthistorikerin Miriam Bers, "die Bewohner haben einfach ihr Haus dekoriert."

Kunst oder Schmiererei? Auf Führungen durch Galerien und Hinterhöfe werden Besucher in die lebendige Kunstszene Berlins eingeführt. (Foto: Maike Rummich/dpa/tmn)

In Berlin verlieren selbst Kunstinteressierte leicht den Überblick. Die Kunstszene verändert sich so schnell, dass niemand genau weiß, ob es in der Stadt 400 oder 600 Galerien gibt - so stark schwanken die Schätzungen. Zu schnell öffnen Neue, andere gehen Bankrott, wieder andere ziehen um.

Miriam Bers bietet mit ihrer Agentur "GoArt!" seit vier Jahren Stadtführungen durch die Kunstszene an und hilft Besuchern dabei, die sehenswerten Galerien zu finden. An diesem Tag lotst sie eine Gruppe russischer, finnischer und polnischer Besucher durch das Scheunenviertel. Dort, im ehemaligen Ostteil der Stadt, sind die erfolgreichsten Galerien zu Hause. Nach der Wende besetzten Künstler die heruntergekommenen Altbauten in der August- und der Linienstraße.

Miriam Bers führt die Besucher in einen Hinterhof in der Linienstraße, hindurch zwischen Häusern aus gelben und roten Backsteinen, die Absätze der Touristinnen kämpfen mit dem Kopfsteinpflaser. Am Ende des Innenhofes liegt die Galerie "Neugerriemschneider". Seit 1994 präsentieren Tim Neuger und Burkhard Riemschneider große Namen der zeitgenössischen Kunst. Für eine Ausstellung des dänischen Künstlers Olafur Eliasson ließen die Galeristen vor vier Jahren sechs Tonnen isländisches Gletschereis in die Ausstellungsräume wuchten.

Die Reisegruppe betrachtet Arbeiten von Franz Ackermann: Wandmalereien bis unter die Decke. Ein knallbuntes Wirrwarr aus Linien, Kurven, Farbflächen. "Immer wieder wird gesagt: Malerei ist tot", sagt Bers. "Doch dann kommen Leute wie Franz Ackermann und erfinden die Malerei wieder neu." Die DIN-A5 großen Aquarelle und Zeichnungen an der Galeriewand - Ackermanns gemaltes Reisetagebuch - würden mittlerweile für 15. 000 Euro das Blatt gehandelt.

Ein Vielfaches davon kosten die Bilder von Neo Rauch, die um die Ecke in der Galerie "Eigen + Art" in der Auguststraße hängen. Der Galerist Gerd Harry Lybke entdeckte Rauch und machte so die Neue Leipziger Schule berühmt.

Doch nur zwischen 60 und 80 der Berliner Galerien seien kommerziell erfolgreich, erklärt Miriam Bers. Der heutigen Reisegruppe zeigt sie vor allem die großen Namen. Ganz nach Wunsch führt sie die Berlin-Besucher durch bekannte oder unbekannte Galerien, Mode-Design-Geschäfte, vorbei an architektonischen Highlights oder Hauswänden mit Streetart.

Führungen sollen Touristen dabei helfen, im "Kunstdschungel Berlin" die besonders sehenswerten Galerien zu finden. (Foto: Goart/Stefano Gualdi/dpa/tmn)

Viele Künstler und Galerien haben mittlerweile das Scheunenviertel verlassen. Sie flüchteten vor dem Berlin-Mitte-Schick und suchten sich bezahlbare Räume. Am höchsten ist die Galeriedichte nun im einstigen Niemandsland, zwischen Mauerstreifen und Axel-Springer-Hochhaus. "Der Trend geht weiter nach Schöneberg", sagt Miriam Bers, "in die Kurfürstenstraße, die Potsdamer Straße, das Schöneberger Ufer." Auch Kreuzberg erlebe eine Wiedergeburt, und der Norden Neuköllns habe gerade die Wende vom Problem- zum Szenekiez geschafft.

Einblick in private Sammlungen

Während die kleinen Galerien aus Mitte abziehen, öffnen Privatsammler dort ihre Paläste. Die ehemalige Besitzerin des Hemden-Herstellers "Van Laack", Erika Hoffmann, lädt jeden Samstag in ihr 1400-Quadratmeter-Penthouse ein. Ihre Mitarbeiter führen die Besucher vorbei an Gemälden von Gerhard Richter, Andy Warhol oder Frank Stella. Der Sammler Christian Boros öffnet samstags und sonntags die Türen des ehemaligen NS-Bunkers in der Reinhardtstraße. In seiner Sammlung sind Werke von Damian Hirst, Olafur Eliasson und Anselm Reyle.

Bei Erika Hoffmann und Christian Boros müssen sich Besucher voranmelden, doch manchmal gelingt es den Anbietern von Kunst-Stadtführungen, die Türen der Sammlungen auch unter der Woche zu öffnen. In keiner anderen Stadt der Welt zeigen so viele Sammler ihren Privatbesitz wie in Berlin.

Die Agentur "Art:Berlin" führt jeden Samstag durch die Sammlung von Thomas Olbricht. Der Erbe des "Wella-Konzerns" ließ sich für seine Sammlung in die Auguststraße eine eigene Kunsthalle bauen. Der angehende Kunsthistoriker Sebastian Hoffmann empfängt die Reisegruppe: "Die Ausstellung ist sehr bunt, sehr laut, sehr spielerisch. Es ist eine Abenteuer- und Safarireise."

Schon mit fünf Jahren fing Thomas Olbricht an zu sammeln: Erst Matchboxautos und Briefmarken, später Gemälde und Skulpturen. Rund 2500 Stücke umfasst seine Sammlung. Über den Kauf entscheidet der Sammler per Bauchgefühl, ein Konzept hat er nicht. Und so finden sich in der Kunsthalle Feuerwehr-Spielzeugautos und Paul-Klee-Gemälde.

Schneller Wandel: Derzeit gibt es in Berlin geschätzt 400 bis 600 Galerien. (Foto: Goart/Stefano Gualdi/dpa/tmn)

Sebastian Hoffmann führt die Gruppe in einen Raum, den er als "Schmuddelkammer" ankündigt. In der Mitte steht eine Skulptur aus schokoladenfarbenen Silikon-Penissen des Künstlerpaars Tim Noble und Sue Webster. Eine Lampe strahlt die Penisse an und wirft einen Schatten an der Wand, der den Profilen der Künstler ähnelt. Doch der Schatten hat kleine Dellen an der Stirn der Künstlerin. "Da muss der Restaurator ran", sagt Hoffmann und schmunzelt, "die Besucher haben zu viel an der Skulptur herumgespielt."

Am Ende der Olbricht-Ausstellung stehen die Touristen in der Besucher-Lounge im ersten Stock vor einem großformatigen Bild, auf dem eine Bar zu sehen ist. Auf dem oberen Rand des Bildes sitzt eine Fliege. "Gehört die zum Bild dazu?", will eine Frau wissen. Der Kunstführer Sebastian Hoffmann zögert. Dann nähert er sich dem Bild und verscheucht die Fliege. Manchmal sind selbst die Experten nicht sicher, was Kunst ist und was nicht.

Informationen:

"GoArt!" bietet Führungen für bis zu sechs Personen an. Pro Stunde kostet die Führung für die Gruppe zwischen 80 und 105 Euro (Tel.: 030/30 87 36 26, www.goart-berlin.de). "Art:Berlin" führt jeden Samstag um 15.00 Uhr durch den "Collectors Room" von Thomas Olbricht. Inklusive Eintritt kostet die Führung 10 Euro pro Person. Außerdem werden Führungen durch die Galerien in der Brunnenstraße, der Potsdamer Straße und durch die Hinterhöfe in Berlin-Mitte angeboten, Kosten: 9 bis 15 Euro pro Person (Tel.: 030/28 963 90, www.artberlin-online.de).

© Laura Himmelreich, dpa - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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