Kanyakumari in Indien:Warten auf die Sonne

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Kanyakumari, die mystische Südspitze Indiens, zieht Tausende Pilger an. Auf dem Weg dorthin reist man im Zug wie in einem Fiebertraum.

Christian Knull

Der Bahnhofsvorsteher in Madurai sagt: "Schlafwagen Nr.3 - Sie sind mein VIP-Gast." VIP-Gast, das klingt gut und verringert sofort das Unbehagen, nachts in einen indischen Zug steigen zu müssen, der fast immer so voll ist, dass man Sorge hat, die Passagiere könnten wie nasse Reiskörner herausquellen.

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Der Mann lächelt und bittet, vor der Abfahrt zum Reservierungsschalter zu kommen. Er sagt es so, als liege dort ein roter Teppich ausgerollt bereit.

Natürlich sucht man diesen Teppich nachher vergebens. Der Bahnhofschef ist längst nach Hause gegangen, und der eigene VIP-Status schmilzt, bis eine Dame freundlich ihren Kopf schaukelt und die Nummern des Bettes auf dem Ticket vermerkt. Alles hat seine Ordnung, und man akzeptiert die tiefere Logik im indischen Buchungssystem, selbst wenn sie außerhalb der staubigen, grauen Computer liegt, welche die Frau mit keinem Blick würdigt.

Der Nachtexpress, der an die Südspitze des Landes, nach Kanyakumari fährt, wartet schon. Er riecht nach Schmierfett und Eisen, tiefer im Bauch mischen sich Essensgerüche von Masala und Ingwer darunter und auch die Hinterlassenschaften der offenen Toiletten, die sich irgendwo im Dunkeln befinden. Die Wagen sind eng.

Es ist stickig wie im Maschinenraum eines Schiffes. Auch auf der Gangseite gibt es Liegen, man stolpert über Gepäckstücke, tastet sich voran und kramt nach einer Taschenlampe: Schlafwagen Nr. 3. Schwarze Ventilatoren schnurren. Ein ganzes Geschwader klebt wie Pailletten an der Decke und verwirbelt die Luft. Statt gemachter Betten findet man eine Nachtstatt, aus der braune Füße mit Silberringen an den Zehen hängen.

Die Frauen raffen stumm ihre Saris und verschwinden mit einem Stoffbündel in der Dunkelheit. Kopfkissen lassen sie nicht zurück, auch Laken sucht man vergebens, so rutscht man auf vorgewärmte, blaue Kunststoffliegen.

Es ist Mitternacht, als die Lokomotive fauchend Warnsignale ausstößt und mit einem leichten Zittern beginnt, den langen Zug nach Süden zu ziehen. Der Fahrtwind trägt den keuchenden Puls der Lok durch die kleinen vergitterten Fenster, Dieselruß mischt sich mit der feuchten Nachtluft. Auch aus den offenen Wagentüren dröhnt der Schall der Räder, die in wildem Tempo auf Anschlussstücke und Weichen schlagen.

Der Wagen ächzt, ein ganzes Eisenbahn-Orchester stimmt sich ein, und dann geht das Vibrieren des Bettes in ein heftiges Schütteln über. Man hält sich an der Metallkette fest, in die das Bett eingehängt ist, bis sich der Rhythmus mit steigender Geschwindigkeit des Zuges allmählich wieder beruhigt.

Die Gedanken laufen zurück. Der großartige Tempel von Madurai am Abend: Hinter den himmelstürmenden Figurentürmen, den Gopurams, haben einem Blumenflechter und Devotionalienverkäufer zugewunken. In einem Winkel stand ein Elefant mit bemalter Stirn.

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Auf dem Boden der 1000-Pfeiler-Halle klebte in den farbigen Mandalas die rote Spucke der Betelnusskauer, die im Staub Blasen warf. Wer barfuß unterwegs war, musste achtgeben, wohin er trat . Eine Hindugruppe wurde von Trommlern angetrieben, bis sie sich in Ekstase tanzte. Wo sich Licht und Rauch mischten, wurden große Götterpuppen getragen, liefen halbnackte Priester durchs Bild. Sie zündeten Öllampen an und malten den Pilgern, die ihre Hände über dem Feuer reinigten, weiße Striche auf die Stirn.

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Plötzlich schreckt man aus dem Schlaf hoch. Es ist vier Uhr morgens, die Menschen um einen herum hat Unruhe ergriffen. Kaum hält der Zug, drängen sie hinaus, füllen den Bahnsteig in Kanyakumari. Tausende sind es, müde Gesichter, die meisten in Tücher gehüllt, sie haben gesessen, aneinander gelehnt, haben auf dem Boden gehockt oder sich ins Gepäckfach gerollt.

Kinder träumen mit offenen Mündern in der milden Nachtluft. Im grellen Strahl einer Neonlaterne hasten aufgebrachte Rikscha-Fahrer auf Reisende mit Rollkoffern zu, verladen sie in ihre gelb-schwarzen Motorrikschas und bringen sie in die Hotels der Stadt.

In diesen Stunden vor Sonnenaufgang zeigt Kanyakumari sein nachtschwarzes, fiebriges Gesicht. Das Fieber liegt in den Straßen. Durch sie wandert eine farblose Menschenmasse in einem Schweigemarsch hinab zum Meer. Die Menge hat es eilig. Menschen steigen über kleine Mäuerchen, die das Gelände einfassen, auf ein Plateau, das von einem offenen Tempel gekrönt ist. Hier rastet, wer abends eingetroffen ist.

Auf den Mauern kauern Gestalten wie große Vögel. In ihren langen Schatten sammeln sich die Gerüche Indiens: die parfümierten, die fauligen, die blumigen, der Geruch von Fisch und Salz, von Verwesung und brennenden Räucherstäbchen. Einem blinden, orientierungslosen Bettler reichen die Leute Münzen; ein Pilger mit einem Stock, größer als er selbst, zieht einen verwachsenen Fuß nach, er tritt vorsichtig auf dem Ende seines Unterschenkels auf.

Geschäftemacher, die Ballons verkaufen, sind unterwegs, bald auch Händler, die Tee und Kaffee anbieten und ein Mann, der zwei Schimmel für einen kurzen Ausritt anpreist.

Vor dem Kap, kaum erkennbar im schwarzen Meer, liegt der Tempelfelsen mit dem Vivekananda-Denkmal, eine Gedenkstätte für den hinduistischen Reformer, der auf der Insel vor mehr als hundert Jahren meditierte. Einen Steinwurf weiter eine 40 Meter hoch aufragende Statue, die direkt aus dem Wasser zu wachsen scheint.

Dazwischen ist Gandhis Asche verstreut worden und somit die Südspitze des Landes endgültig zu einem hinduistischen Wallfahrtsort geworden. Jeder Inder will einmal gesehen haben, wie hier die kupferfarbene Sonne morgens aus dem grau gefalteten Meer auftaucht.

Als an der schrundigen Landspitze jeder Platz besetzt ist, waten Jugendliche durch die Brandung auf Felsen zu, klettern hinauf und durchbrechen die Stille. Blitzlichter flackern, und dann ertönen Jubelschreie: Im Zwielicht steigt die Kuppe des Feuerballs aus dem Wasser. Die amorphe Masse wird lebendig, Pilger steigen ins Wasser und sehen mit entrücktem Blick nach Osten.

Immer mehr Menschen drängen in die Fluten, baden oder meditieren. Viele Paare sprechen mit aneinandergedrückten Handflächen vor der Brust Gebete. Dazwischen stehen coole junge Inder aus den Städten, die ihre Sonnenbrillen nicht absetzen; sie filmen mit hochgehaltenen Handys.

Über den Besuchern ist es hell geworden, und im weichen Licht des Morgens hat Kanyakumari ein anderes Gesicht. Plötzlich strahlt die Promenade. Die Tempelmauer, hinter der die Göttin Kumari Amman verehrt wird, hat rot-weiße Streifen erhalten, das Gandhi-Memorial eine schreiend pinke Farbe angenommen, und die Händler ziehen, als gäbe es hier Ladenöffnungszeiten, gleichzeitig ihre dunklen Planen von den Verkaufsständen.

Darunter liegen Tausende farbige Muscheln, Korallen und geschliffene schwarze Glückssteine. Besonders gefragt sind die großen weißen Meeresschnecken, in die die Händler mit gewichtigen Mienen hineinblasen. Die Geräusche, die sie erzeugen, klingen wie die Signalstöße einer Lokomotive.

Hinter dem Tsunami-Denkmal für die Opfer des Seebebens von 2004 schälen sich die unförmigen Hotels des Ortes heraus, die wie Kisten zwischen die Straßen gesetzt sind. Die Hotels haben die Sonnenauf- und -untergangszeiten angeschlagen. Sie leben im Rhythmus der Sonne.

Das "Sea View" bietet sogar einen 24-Stunden Check-in. VIP-Status, denkt man - bis man gebeten wird, wieder um 4.30 Uhr auszuchecken. Wegen der neuen Besucher von Kanyakumari.

© SZ vom 31.03.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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