Hindu-Fest Kumbh Mela in Indien:Nirwana-Express für Millionen

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Willkommen beim Pilgerfest "Maha Kumbh Mela" in Allahabad: Nirgendwo auf der Welt versammeln sich so viele Menschen zur gleichen Zeit am gleichen Ort. An diesem Wochenende werden es bis zu 40 Millionen Pilger sein.

Ein Reportage von Karin Steinberger

Noch ist es ruhig in den Nächten, wenn die eisigen Winde über die Zelte ziehen, die schaukelnden Pontonbrücken, die kilometerlangen Straßen aus Sand. Nur die großen Werbetafeln der Ashrams und Babas und Gurus zappeln im Wind.

"Hey, komm her, komm her. Warum bist du nicht nackt?", zischt es aus dem Dunkel. Ein kleiner, dürrer Naga Baba, das Haar hoch aufgetürmt, versucht sich aus dem Staub zu machen. "Wer hat dir gesagt, dass du etwas anziehen sollst?" Die heiligen Männer hocken am Feuer, sie lassen nicht ab von dem winzigen Mann.

Ein Naga Baba trägt Asche, keine Kleider. "Mein Guru hat es so gesagt", flüstert der Baba, das winzige Tuch hängt an ihm wie ein Lumpen. "Setz dich", sagen die heiligen Männer und reichen die Chillum-Pfeife herum. Es riecht nach Feuer, Hasch und nie getrockneten Kleidern. Der kleine Baba sitzt da wie ein verängstigtes Tier, er bekommt eine Tasse Tee, wie die Normalsterblichen, die Baba-Glotzer, die Zuschauer bei diesem Spektakel. Er ist nicht weiter als sie, er hat nichts verstanden. Er ist ein heiliger Mann ohne Kraft. Ein Anfänger.

Er trinkt den Tee schnell und hastig, bedankt sich und verschwindet in der Nacht. "Es gibt zu viele falsche Babas", sagt einer.

Dann erstarren sie, Mahant Amar Bharati Ji kommt vorbei, sein rechter Arm steht nach oben wie ein dürrer Ast, seine Fingernägel fallen wie Locken von seiner verkrüppelten Hand. Keine asketische Prüfung ist so schmerzhaft, keine verlangt so viel Kraft wie die, den Arm für Jahrzehnte in die Luft zu strecken. In den frühen Siebzigerjahren soll er beschlossen haben, den Arm zu heben. Die Babas verneigen sich.

Als Amar Bharati in der Nacht verschwindet, fangen die Babas wieder leise an zu reden. Ihre Augen sind rot, wie vom Saft der Betelnuss getränkte Spucke. Sie nicken Mukesh Kumar zu, dem Polizisten, der sie bewacht, 55 Tage lang, vom 14. Januar bis zum 10. März 2013, bis sie vorbei ist, die Maha Kumbh Mela, die wichtigste aller Pilgerreisen für Hindus, die größte aller Menschenansammlungen.

Alle zwölf Jahre, wenn Sonne, Mond und Jupiter in einer bestimmten Konstellation zueinander stehen, findet in Allahabad die Maha Kumbh Mela statt, an diesem Ort, an dem sich am Anfang der Zeit, als das Universum noch ein Ozean aus Milch war, Götter und Dämonen um den Krug (Kumbh) mit dem Nektar der Unsterblichkeit zankten. Bei dem Handgemenge fielen vier Tropfen auf die Erde: in Ujjain, in Nashik, in Haridwar. Und in Allahabad.

100 Millionen sollen kommen in den 55 Tagen. Pilger aus ganz Indien werden nach Allahabad strömen, Zehntausende Heilige werden ihre Tempel und Höhlen, ihre Ashrams und Eremitagen verlassen. Die Zahl wabert durch die 20 Quadratkilometer große Zeltstadt wie die Gesänge der Heiligen. Oder 110 Millionen? Sie alle wollen eintauchen in das Wasser am Sangam, dem Zusammenfluss des Ganges, des Jamuna und des mythischen Flusses Saraswati. Es ist Wasser, das sich für Hindus in dieser Zeit zu purem Nektar verwandelt - Amrita.

Der Polizist Mukesh Kumar steht in der Nacht, die Waffe neben sich. Die Babas im Zelt diskutieren über die Badezeiten, die ihnen zugeteilt wurden für diesen Sonntag, den Mauni Amavasya Snan, den Tag des Neumonds, den Tag, an dem das Universum geschaffen wurde, den heiligsten aller heiligen Badetage. Wer an diesem Tag eintaucht in das eisige Wasser am Sangam, wird befreit von allen Sünden. Es ist der schnellste Weg zur Erlösung vom Rad der ewigen Wiedergeburten. Es ist die Abkürzung ins Nirwana. 30 bis 40 Millionen Menschen sollen an diesem 10. Februar 2013 kommen. Alle mit dem Ziel Sangam.

Mukesh Kumar haben schon die kleineren Badetage gereicht, die elf Millionen am 14. Januar, die fünf Millionen am 27. Januar. Irgendwann wird die Masse zu einem summenden, bebenden Ganzen, das sich vor Hindernissen teilt, um sich dahinter wieder zu vereinen, immer Richtung Sangam, ein wabernder, greinender, keifender Menschenbrei, von kilometerlangen Holzzäunen sanft gelenkt, wie eine gigantische Herde, hin zum Wasser, wo jeder kurz eintauchen und die heiligen Riten vollzieht darf, und von Polizisten gleich weitergetrieben wird, wieder raus, nach hinten, in einem großen, ewigen Kreislauf, um den Millionen dahinter Platz zu machen.

Raja Ram Tiwari lächelt kühl. Der größte Badetag ist immer auch sein großer Tag. Seit er denken kann, sitzt er hier, Sektor 2. Er hat fünf Maha Kumbh Melas mitgemacht, 62 kleinere Magh Melas und Ard Kumbh Melas. Er war 1954 hier, bei der großen Panik, als am großen Badetag 800 Menschen zu Tode getrampelt wurden. Er war 1977 da, als einer der Elefanten ausrastete, auf denen die heiligen Männer damals noch zum Sangam ritten.

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Raja Ram Tiwari ist jetzt 86 Jahre alt, sein Körper ist klapprig, er kommt gerade aus dem Krankenhaus. Aber eine Maha Kumbh Mela nicht mitmachen? Sein Lacher geht in Husten über. Nein, nein. Er leitet das Khoya Paya Shivir Camp, "Lost and Found", nennt er es. Es ist das Fundbüro für Menschen. Man braucht ihn hier.

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Schon bei seiner ersten Kumbh Mela 1946 hat er gemerkt, dass man einen Ort braucht, an dem sich Menschen finden können. Viele verlieren sich in diesem Gewusel, Alte, Kinder. Es heißt, dass früher Tausende verschwunden sind. Für immer. Also gründete er mit Freunden das Lost-and-Found-Camp. Am Anfang schrien sie die Namen noch durch Blechdosen in die Menge. Damals gab es keine Elektrizität, kein Licht, keine Krankenhäuser, keine 550 Kilometer langen Pipelines, keine 14 Pontonbrücken, um den Ganges zu überqueren, keine 35 000 Toiletten. Raja Ram Tiwari sagt: "Und es gab viel weniger Sadhus."

Es sind so viele Akharas, so viele Heilige. All die Babas, Eremiten, Mahants, Yogis. Die Gorakhnathis mit ihren Ohrringen, die Aghoris, die sich in der Asche der Toten wälzen, die Sakhis mit ihren Frauenkleidern, die Wrestler mit ihren mächtigen Körpern, die Naga Babas, in Asche gekleidet. Und über allem schwebt die Stimme des Mädchens, das die Namen und Adressen der Verlorengegangenen vorliest, Stunde um Stunde. Es ist der Sound der Maha Kumbh Mela. Mehr als eine Million Erwachsene und 20 000 Kinder haben Tiwari und seine Helfer in all den Jahren vereint. Dieses Jahr waren es schon am ersten Tag 6000.

Vor zwölf Jahren haben sich am großen Badetag, dem Tag des Neumonds, 80 000 Menschen verloren. Kein Witz. Der 24. Januar 2001 war der schlimmste Tag im Menschenfundbüro. Und dieses Jahr? Tiwari sagt: "Ach, sie haben jetzt alle Handys."

Ein alter Mann steht vor dem Zelt, er hat seine Frau verloren, Helfer beruhigen ihn. Er war in den vergangenen Tagen oft da. Seine Frau und seine Tochter auch. Er war da, sie waren da. Sie verlieren sich, sie finden sich. Es gibt vieles, was Tiwari nicht mehr versteht, die als Göttinnen verkleideten Bettel-Kinder, die Luxuszelte auf der anderen Flussseite für Touristen und Bollywood-Stars, mit Spa und Terrasse mit Teleskop, um die Heiligen anzuglotzen. Aber wenn er sieht, wie sich Menschen wieder finden, weiß er, warum er da ist.

Draußen auf der Straße breiten die Händler jetzt ihre Tücher aus, Affenknochen für Bettnässer, getrocknete Schlangenhaut gegen Schlangenbisse.

Gleich daneben hängt Kelash Giri sein linkes Knie in die Schlaufe. Menschen starren seinen Aschekörper an, berühren seine Füße, werfen Geld in die Schüssel. "Baba, seit wann stehst du?", fragt einer. "Seit zehn Jahren." Seine Füße haben am Rist eiternde Wunden. Es ist nichts, sagt er. Er und die anderen Naga Babas in seinem Zelt reden über den großen Badetag. Sie wissen, dass sie die Ersten sind. Keiner legt sich mit ihnen an. Sie haben immer gekämpft, gegen rivalisierende Sekten, gegen die Muslime, gegen die Briten. "Wir sind die Verteidiger der Religion." Die Babas nicken. "Die Leute meinen, wir nehmen ihnen ihre Kinder weg." Gelächter.

Die Naga Babas werden auch an diesem Sonntag die Ersten sein. Mitten in der Nacht werden sie an dem für die Heiligen reservierten Teil in den Sangam rennen, Tausende mit Asche beschmierte Nackte. Wie eine Armee aus der Urzeit. Und in den Luxuszelten werden sie durch ihre Teleskope schauen auf die größte Menschenansammlung der Welt. Und froh sein, dass sie auf der anderen Seite des Flusses stehen.

© SZ vom 07.02.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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