Hamburg-St. Pauli:Eine Liebe in Neonrot

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St. Pauli ist mehr als das berühmteste Amüsierviertel Europas. Musiker, Theatermacher, Unternehmer: Alle wollen auf den Kiez, der sich derzeit wieder neu erfindet.

Ralf Wiegand

Es ist das Neonlicht an den Fassaden. Es sind die blinkenden roten Herzen in den Fenstern, es sind die Türsteher, die hier "Porter" heißen, es sind die vergilbten Fotos von schönen Frauen in den Schaukästen vor verruchten Lokalen, neben denen die Liste mit den Spirituosenpreisen hängen.

Auf der Reeperbahn
:Hamburger Kiez-Szenen: St. Pauli

Fußballkult und Matrosenromantik prägen das Viertel genauso wie die obligatorischen Sexshops.

Es sind die dicken Vorhänge, die den Blick hinein versperren, was immer auch drinnen geschehen mag. Es sind die Theater, vor denen sich Schlangen bilden, es sind die Karrieren, die hier beginnen - und die Träume, die hier enden.

Es sind die Beatles, die mal da waren, und all die Abenteurer, die geblieben sind. Es ist das Versprechen, dass alles live und alles echt ist. Und es ist das Wissen darum, dass das nicht stimmt.

Die Reeperbahn ist ein Boulevard der Illusionen, St. Pauli ein Viertel für Traumtänzer und Langschläfer, Nachteulen und Lebenskünstler.

St. Pauli ist ein einziges riesiges Varieté. "Am Tag ein Dorf, und in der Nacht ist die Welt zu Gast", sagt Corny Littmann über das Quartier, in dem er seit gut 30 Jahren lebt.

20 Millionen Menschen pro Jahr besuchen das, was einmal "sündigste Meile der Welt" hieß und heute eine Touristenattraktion ist. Geheimtipp oder Neppbude, manchmal liegen nur zehn Schritte dazwischen.

Aber ohne die Reeperbahn, ohne St. Pauli wäre Hamburg niemals die am zweithäufigsten besuchte Stadt Deutschlands, nach Berlin. Wer Hamburg sagt und an Liebe denkt, dem muss St. Pauli einfallen.

In Corny Littmanns Theater, dem berühmten Schmidts Tivoli, kann man einen St.- Pauli-Schnellkurs buchen. Dazu muss man nur ein Ticket kaufen für das Musical "Heiße Ecke". Das Stück strebt seiner tausendsten Aufführung entgegen. Es ist das erfolgreichste laufende deutschsprachige Musical, sagt Littmann.

Cornelius Littmann, 54, genannt Corny, ist über die Jahre eine Art Mr. St. Pauli geworden. Einst hat er als Schauspieler begonnen und das Establishment in seiner Rolle als "Herr Schmidt" so provoziert, dass sich der Bayerische Rundfunk aus seiner "Schmidt Mitternachtsshow" ausblendete.

Littmann, selbst homosexuell, hatte ein Plakat der Aidshilfe in die Kamera gehalten, das zwei Männer beim Oralsex zeigte. Heute gehört ihm die Schmidts Tivoli GmbH, zu der zwei Theater, zwei Restaurants, zwei Bars und ein Nachtclub gehören - alle zusammen haben einen Jahresumsatz von 14 Millionen Euro.

Bis vor Kurzem war Littmann noch Präsident des FC St. Pauli, jenes Clubs, der wie kein anderer Fußballverein das Lebensgefühl des Stadtteils widerspiegelt, aus dem er kommt. Das alles hat ihm seinerzeit den Titel "Hamburger Unternehmer des Jahres" eingebracht.

Auf Littmann gehen auch die Pläne zurück, St. Paulis legendär marodes Stadion am Millerntor zu erneuern. Es ist wohl die einzige Arena in Deutschland, in der man sich beim Hinsetzen einen Holzsplitter einziehen kann. Die Wandlung zum modernen Fußballtempel wäre wie ein Symbol für den Stadtteil: Nach und nach wird das Schmuddelviertel chic.

In Littmanns Theater gibt es noch das alte Kiez-Klischee, bunt aufbereitet. In der "Heißen Ecke" steckt in jedem Würstchenbrater ein Entertainer. Das Theaterstück ist ein jugendfreier Blick ins pralle Leben des berühmtesten Kiez der Republik mit einem Schuss Sozialkritik. Eine Hommage an St. Pauli eben.

Nirgendwo sonst könnten seine beiden Theater, das Tivoli und das neue Schmidt Theater, funktionieren, glaubt Littmann. Hier standen schon immer die Bühnen für die kleinen Leute, wie noch heute das St.-Pauli-Theater in der direkten Nachbarschaft.

Das Schmidt Theater hat letztes Jahr wiedereröffnet. Es ist neu gebaut worden, aber Littmann hat darauf geachtet, dass die Atmosphäre des alten Saales erhalten geblieben ist. Es freut ihn, wenn die Leute sagen, es sehe "bei euch aus wie früher".

Brachfläche zwischen Hamburg und Altona

St. Pauli, der Stadtteil, der heute jede Nacht in tausend Farben leuchtet, war früher graues Niemandsland, eine Brachfläche zwischen den Städten Hamburg und Altona, die nachts ihre Tore schlossen. Bis ins 18. Jahrhundert schickte die Hansestadt hier ihre Pestkranken, Armen und Irren hin.

1833 wurde St. Pauli ins Hamburger Stadtgebiet aufgenommen, lag aber immer noch außerhalb der Mauern. Ein idealer Ort für das kleinbürgerliche Amüsement. Zahllose Bühnen entstanden, Lokale schenkten aus. Später kamen die Kinos hierher, es waren einmal mehr als 60.

Und immer mischten sich Matrosen unters Volk, die was erleben wollten, bis ihr Schiff auslief: Musik. Oder die Illusion von großer Liebe. Es gab von jeher Frauen hier, die das bedienten. Man lebte miteinander und tut es noch heute, und manchmal kommt es dabei zu kuriosen Nachbarschaften. "Meine erste Wohnung, das war für einen 18-Jährigen schon ein Erlebnis", sagt Baster Ruebsam, "auf der Etage unter mir die Nutten, in der Bude Kakerlaken." Und er mittendrin, der Soziologiestudent aus Homberg (Efze).

Heute ist Baster 26 und der zweitjüngste Clubbetreiber in Hamburg, er leitet den "Komet" in der Erichstraße, jeden Abend ab 21 Uhr geöffnet. Der Laden steht im harten Wettbewerb ums tanzwütige Jungvolk: Keine Bar in Hamburg kommt mehr ohne DJ aus.

Die Musikszene in der Hansestadt ist weltberühmt. Angeblich ist die Dichte an Plattenläden, die noch Vinyl verkaufen, nirgendwo in Deutschland so hoch wie hier. Baster ist, wie so viele, hier hängen geblieben. Um sein Studium zu finanzieren, hat er nachts Platten aufgelegt. "Anfangs überhaupt nicht professionell", sagt er, aber dann sind es immer mehr Aufträge geworden. Heute muss man Glück haben, um Baster an seinen Plattenteller zu bekommen. Er ist spezialisiert auf skurrile Oldies aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren, "tanzbare Sachen, nicht so bekannt".

Bevor Baster Ruebsam mit 18 Jahren nach Hamburg zog, hat er in der Plattensammlung seines Vaters gestöbert. Der hat einst selbst Musik gemacht und auch mal auf dem Kiez gespielt.

Die Reeperbahn war in den Sechzigern nicht weniger als die Wiege des Beat. In Clubs wie dem "Indra", dem "Top Ten", dem "Kaiserkeller" oder dem weltberühmten "Star-Club" konnten sich junge Musiker ausprobieren und wurden dafür von einem enthusiastischen Publikum gefeiert.

Aus dem Wettstreit talentierter Bands entstand der ganz spezielle Hamburg Sound, die Quelle des Beat. Auf dem Kiez der Neuzeit gibt es 60 Live- Clubs und Tanzbars, riesige Läden wie das "Uebel & Gefährlich" im alten Hochbunker am Heiligengeistfeld oder kleine, aber feine wie das "Molotow" am Spielbudenplatz, eine für Indie-Partys berühmte Location.

Im "D-Club" tanzen die Massen, in der "Prinzenbar" nebenan geht es experimenteller zu. Auch die repräsentative Adresse Reeperbahn 1 gehört der Musik: Einst war hier der "Mojo Club" zu Hause, jetzt bietet das "Mandarin Kasino" unterschiedlichsten Musikstilen eine Bühne.

Baster Ruebsam hat sein Leben in die Nacht verlagert, bei Dienstschluss scheint oft schon die Sonne. Manchmal vergisst er da, was gesund ist. Gerade hat er eine Lungenentzündung ausgestanden. Jetzt sitzt er im "Café Geyer", Rauchen geht schon wieder, und philosophiert über die Freiheit, tun zu dürfen, was Spaß macht. "Ich lege die Musik auf, die mir gefällt - und bekomme auch noch Geld dafür." Nirgendwo könne man sich so entfalten wie hier in seinem Kiez.

Dieses Lebensgefühl wirkt anziehend: St. Pauli ist längst nicht nur als Vergnügungsviertel ein Magnet, auch als Wohnquartier ist es sehr angesagt. Die Preise für Eigentumswohnungen sind zwischen 2002 und 2005 um mehr als 20 Prozent auf mehr als 2000 Euro pro Quadratmeter gestiegen, die Mieten laut einer inoffiziellen Untersuchung sogar binnen eines Jahres um 20 Prozent.

Überall im Viertel wird gebaut: Die Stadt investierte zwölf Millionen Euro in die Sanierung der Reeperbahn, um zur Fußball-WM ein piekfeines Stückchen St. Pauli präsentieren zu können. Der größte Teil floss in den Spielbudenplatz, zudem wachsen jetzt Bäume auf dem Kiez: Der Mittelstreifen der vierspurigen Meile ist exklusiv bepflanzt - mit Urweltmammutbaum, Säuleneichen und Pyramidenpappeln.

Bald soll der Beatles-Platz an der Ecke Reeperbahn/Große Freiheit entstehen, ein Denkmal für die große Zeit des "Star-Club", in dem die Pilzköpfe einst auftraten. St. Pauli verwandelt sich: Auf dem Gelände der ehemaligen Bavaria-Brauerei entstehen neue Gebäude auf 28 000 Quadratmetern. 300 Wohnungen wird es hier geben, 2008 sollen die ersten bezugsfertig sein.

Kreative und Nobelherbergen

Ins Atlantic- Haus, ein schickes Bürogebäude mit Blick auf Michel und Hafen, ziehen schon in diesem Frühsommer die ersten Mieter, die für das neue Image des Viertels stehen: Die Werbeagenturen BBDO Germany, TBWA und Nord Event haben knapp die Hälfte der 34 000 Quadratmeter Bürofläche gemietet und kommen mit insgesamt rund 800 Kreativen in die Stadt.

Auch die 328 Zimmer der Nobelherberge "Empire Riverside Hotel" an der Davidstraße werden bald für Gäste bereit stehen. 65 Millionen Euro investiert der Clan um den 92-jährigen Rotlichtmogul Willi Bartels in das 90 Meter hohe Gebäude mit Bronzefassade. Es ist Bartels' elftes Hotel - die Geschichte des Mannes war die Vorlage für Dieter Wedels Film "König von St. Pauli".

500 Meter vom zukünftigen Edelhotel entfernt, sitzt Corny Littmann im Café seines Schmidt Theaters: ein besonnener Mann in Jeans und Karohemd. Als einzige erkennbare Extravaganzen gestattet er sich Mentholzigaretten und tiefe Augenringe. Vor dem Schaufenster treiben Nieselschwaden übers neu verlegte Pflaster des Spielbudenplatzes.

Littmann kennt die Geschichte St. Paulis genau. Er weiß, wann die schäbigen Spielsalons einen Laden nach dem anderen übernahmen, weil sich die Theater die Mieten nicht mehr leisten konnten. Manches Traditionstheater musste einem Supermarkt weichen. St. Pauli war immer ein Auf und Ab. Derzeit fühlt es sich an wie aufwärts.

Es ist viel in Bewegung, seit die Politik den Werbewert von St. Pauli erkannt hat. "Endlich erkannt", sagt Littmann und erinnert an ein Zitat des früheren Innensenators Helmut Schmidt: "Ein Hamburger geht nicht auf die Reeperbahn."

Heute wirbt die Stadt mit einem haushohen Plakat, darauf die Silhouette einer Band, der Schriftzug "Reeperbahn" - und das Logo des Senats. Das rot leuchtende Haus an der Ecke Reeperbahn/ Große Freiheit ist neu und fällt auf: "Susis Showbar".

Der Bau ist von außergewöhnlicher Architektur. Heinz Ritsch, der Gatte der Namensgeberin, kann ein kleines Referat über die Raffinessen der Fassadenplanung halten: "Susis Showbar" wirkt durch die sich nach hinten verjüngende Seitenwand viel größer. Die Bar zieht den Besucher regelrecht hinein in die Große Freiheit, die durch das Haus ein bisschen von der Zeit zurückbekommt, "als hier noch die alten, größeren Gebäude standen, vor dem Krieg", sagt Heinz Ritsch.

Die Gäste interessiert die Architektur wenig. In "Susis Showbar" wollen sie Mädchen sehen, die auf einer Drehbühne alles ausziehen, was sie sich in der Garderobe gerade erst angezogen haben. Manche Männer wollen auch ein bisschen schmusen, dafür geben sie dem Mädchen einen Piccolo aus. "Susis Showbar" ist eine Art St. Pauli unterm Brennglas. "Bei uns ist es so, wie die Leute denken, dass es sein könnte", sagt Heinz Ritsch, und das ist eine wundervolle Erklärung für die Illusion von St. Pauli.

Er, den sie zärtlich "Heinzi" nennt, ist Österreicher, sie, Susi Ritsch, die gute Seele des Etablissements und aus gutem Kölner Hause. Auch hier hängen geblieben, die beiden. Hinter der Bar stehen Frauen, die schon 18 Jahre bei den Ritschs bedienen, und solche, die einst in der Herbertstraße auf den Strich gingen. Für sie ist die Bar ein Karrieresprung. Man könnte "Susis Showbar" einen Tabledance-Laden nennen, Heinz Ritsch bevorzugt den Ausdruck "Cabaret".

Die Tänzerinnen begrüßen ihre Chefs fröhlich, wenn sie zum Dienst kommen. Die Preise sind hoch, das hebt das Niveau des Publikums. Einige Gäste kommen schon seit 20 Jahren her. Sie lieben das kuriose Szenario der Showbar: Susi Ritsch, die es am Rücken hat, sitzt auf einem Bürostuhl an der Bar und führt die Geschäfte auf einem karierten Schreibblock. Ihr Mann hat gleich sein ganzes Büro an die Bar verlegt, samt Laptop. Sieben bis zwölf Frauen tanzen und strippen hier jeden Abend. "Wir verkaufen einen Traum, eine Vorstellung", sagt Heinz Ritsch, aber keine Liebe.

Echte Liebe ist es nur zwischen Heinz und seiner Susi. Sie sind fast seit 30 Jahren zusammen. Theater, Musik, Rotlicht - Corny Littmann, Baster Ruebsam, die Ritschs. Viel haben sie nicht gemeinsam, und doch sind sie nur zusammen St. Pauli. Der Theatermann sagt: "Eigentlich besteht der Kiez aus ganz vielen verschiedenen Kiezen." Der Musiker sagt: "Hier schlagen sich eine Menge Lebenskünstler durchs Leben." Die Barchefin sagt: "Wir sind halt so." Alles ist live, alles echt. Manchmal stimmt es sogar.

© Hamburg - Das Magazin der Hansestadt, Nr.5, April 2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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