Beinahe-Absturz:"Piloten müssen Vollgas geben"

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"Aus Fehlern lernen": Pilot Jörg Handwerg über lebensgefährliche Situationen im Flugzeug wegen falscher Gewichtseingaben.

Katja Schnitzler

Eine falsch eingegeben Zahl bei der Gewichtsangabe führte im Frühjahr in Melbourne fast zur Katastrophe: Ein Kopilot der Emirates Airlines hatte 260 statt 360 Tonnen Startgewicht in den Computer eingetippt. Statt Abzuheben schleifte der hintere Teil des Flugzeugs über den Boden - nur knapp schaffte es der Pilot, den A340 über den zweieinhalb Meter hohen Zaun des Flughafens zu ziehen. Im Juli hatte auch die Crew eines Lufthansa-Jets erhebliche Probleme, ihren Flieger in die Luft zu bekommen: Grund waren falsche Angaben über das Gewicht des Gepäcks, hier lag der Fehler beim Ladepersonal.

Flugkapitän und Sprecher der Pilotenvereinigung Cockpit: Jörg Handwerg (Foto: Foto: oh)

Sueddeutsche.de sprach mit Pilot Jörg Handwerg, 41, von der Vereinigung Cockpit darüber, wie man solche fatalen Fehler vermeiden kann.

sueddeutsche.de: Was passiert, wenn das Startgewicht falsch angegeben wurde?

Jörg Handwerg: Das Startgewicht ist wichtig, da daraus der Triebwerkschub berechnet wird. Man hebt nicht immer mit Vollgas ab, um Lärm und Treibstoffverbrauch zu reduzieren und auch die Motoren zu schonen. In den Computer geben wir dafür das Gewicht und die Wetterbedingungen ein. Stimmt die Gewichtsangabe nicht, werden falsche Schubwerte berechnet, so dass man wie in Melbourne plötzlich zu wenig Leistung auf den Triebwerken hat.

sueddeutsche.de: Wie kann ein Pilot reagieren, wenn die Maschine nicht vom Boden hochkommt?

Handwerg: Er kann Vollgas geben. Allerdings muss er erst mal realisieren, dass etwas nicht stimmt. Am Anfang ist das auf einer Startbahn von mehreren Kilometern Länge relativ schwer festzustellen, ob man genug Schubleistung hat, um in den etwa 45 Sekunden des Rollens eine ausreichende Geschwindigkeit zu erreichen.

sueddeutsche.de: Und dann merkt man es wie beim Zwischenfall der Maschine von Emirates Airlines in Australien zu spät und kommt gerade noch so über den Zaun des Flughafens?

Handwerg: Ich glaube, in Australien haben die Piloten gar nicht mitbekommen, dass sie zu wenig Triebwerksleistung gesetzt hatten- sonst wäre das nicht so knapp ausgegangen.

sueddeutsche.de: Wie kann so etwas vermieden werden?

Handwerg: Die betroffene Airline Emirates hat ganz richtig gehandelt, indem sie seitdem einen Doppelcheck der Eingaben durch beide Piloten vorschreibt. Es liegt in der Verantwortung der Fluggesellschaften, ob sie Doppelchecks einführen oder die Überprüfung der Gewichtsangaben in Checklisten aufnehmen oder andere Sicherungsmöglichkeiten vorgeben.

sueddeutsche.de: Zum Beispiel?

Handwerg: Da gibt es ganz unterschiedliche Abstufungen. Wenn etwa das Startgewicht am Laptop berechnet wird, gibt es natürlich kein Sicherheitsnetz, wenn das ein Pilot alleine übernimmt. Etwas sicherer ist es, wenn der zweite Pilot die Daten ebenfalls überprüft. Die nächsthöhere Sicherheitsstufe ist erreicht, wenn beide die Daten unabhängig voneinander eingeben müssen - und eventuell die Eingabe des anderen Piloten abermals gegenchecken.

sueddeutsche.de: Wie sichern sich deutsche Fluggesellschaften gegen falsche Gewichtsangaben ab?

Handwerg: Völlig unrealistische Tippfehler, etwa 999 Tonnen, werden von der Software erkannt. Sonst sind die Sicherheitsvorgaben unterschiedlich, bei einer großen Airline etwa prüft ein Pilot die Daten, sein Kollege tippt sie ein und der Pilot prüft nochmals die Eingabe. Dieses System hat sich bislang bewährt. Natürlich kann es immer zu Fehlern kommen, wenn Menschen beteiligt sind - auch noch mit fünf Sicherheitsstufen, die Wahrscheinlichkeit ist dann aber nahezu Null.

sueddeutsche.de: Nun kam es aber in diesem Sommer bei der Lufthansa auch vor, dass die Ladedaten falsch zugeliefert worden waren.

Handwerg: An Bord müssen wir uns darauf verlassen, dass uns die Daten korrekt übermittelt werden. Wenn der Lademeister, der den Überblick über den Ladevorgang und das Gewicht hat, einen Fehler macht, ist das für uns Piloten nur sehr schwer nachzuvollziehen.

sueddeutsche.de: Wer überprüft denn die Arbeit des Lademeisters?

Handwerg: Genau kann ich das auch nicht sagen. Eine gewisse Sicherheit gibt aber, dass das Gepäck und sein Gewicht automatisiert erfasst wird und auch automatisch beim Boarding registriert wird, wie viele Leute wirklich an Bord gehen. Dazu kommt aber noch das Gewicht der Fracht.

sueddeutsche.de: Könnten auch Techniken wie etwa Waagen für Flugzeuge weiterhelfen?

Handwerg: Es gibt sogar schon Systeme, die in den Beinen des Flugzeugs das Gewicht ermitteln - nur haben sich diese "Waagen" nicht bewährt, sie waren zu ungenau und bereiteten technische Probleme, so dass viele Airlines sie nicht gekauft haben. Aber auch technische Änderungen sind nur begrenzt zuverlässig, schließlich machen Menschen auch bei der Konstruktion und dem Bau Fehler, was auch schon zu Zwischenfällen geführt hat.

sueddeutsche.de: Nun sollen ja möglichst viele Piloten aus den Fehlern der Anderen lernen und diese nicht erst selbst begehen müssen. Gibt es da ein Informationsnetz unter Piloten?

Handwerg: Vorfälle wie in Australien sorgen durchaus für Diskussionen, da muss man der Ursache auf den Grund gehen. Hier wurde der Presse anonym von einem Piloten mitgeteilt, dass auch Übermüdung der Piloten ein Problem war - da passieren Zahlendreher oder ein Vertippen bei den Kommastellen natürlich eher. Es stellt sich die Frage, was Fehler eher vermeidet, ein Dreifachcheck oder angemessene Dienst- und Ruhezeiten für Piloten.

sueddeutsche.de: Tauschen sich die Airlines untereinander aus?

Handwerg: Ja, da gibt es eine ganz gute Kultur unter den Airlines, die Berichte über Vorfälle, Arbeitsfehler und Schwächen im System austauschen. Die Sicherheitsabteilungen der Fluggesellschaften sammeln anonyme Hinweise der Mitarbeiter über Fehler und Probleme - das ist wichtig, dass hier nicht bestraft wird, so wird erst das nötige Vertrauensverhältnis hergestellt, damit Vorfälle uneingeschränkt gemeldet werden. Nur so aber können auch Andere Lehren aus den Fehlern und Erfahrungen ziehen. Dann kann man zusätzliches Training anbieten oder Abläufe verändern. Wie etwa nach dem Absturz bei Überlingen am Bodensee, als die Piloten zwar vom automatischen Warngerät an Bord noch vor der Kollision gewarnt wurden, sich aber die Cockpitcrew auf die Vorgaben des Fluglotsen am Boden verließ. Nach dem Unglück wurden Piloten aber auch Lotsen geschult, wie man verbindlich in so einem Fall reagieren muss.

sueddeutsche.de: Und was ist die richtige Reaktion?

Handwerg: Man folgt dem Warngerät an Bord, denn der Lotse am Boden hat auf seinem Radar nur eine zeitverzögerte Information, während die automatischen Warngeräte direkt miteinander kommunizieren. Wären die Piloten beider Maschinen den Vorgaben des Computers gefolgt, zu steigen oder eben zu sinken, wären die Flugzeuge wohl nicht zusammengestoßen.

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