Zukunft der Piratenpartei:Zwischen Revolte und Anpassung

Professionell werden, sich im Politbetrieb durchbeißen - oder weiter revoltieren und das eigene Ding machen? Die Piraten stehen auf ihrem Bundesparteitag in Bochum vor der Zukunftsfrage. Der besonnene Partei-Vize Sebastian Nerz und die impulsive ehemalige Beisitzerin Julia Schramm zeigen in ihrer Unterschiedlichkeit, dass die Entscheidung noch lange nicht getroffen ist.

Hannah Beitzer, Bochum

Sebastian Nerz ist immer noch da. Er hat alles durchgestanden: Shitstorms, Machtkämpfe mit anderen Landesverbänden, Witze über seinen Anzug, Gemecker über sein ewiges "Dazu haben wir noch keine Meinung" - all das hat ihn nicht abschrecken können. Er ist immer noch Vize im Bundesvorstand der Piraten, im nächsten Jahr will er für die Partei in den Bundestag einziehen.

In der Halle diskutieren seine Parteifreunde gerade hitzig über ein Wirtschaftsprogramm. Von "neoliberaler Scheiße" ist da die Rede, andere bitten fast flehend, sich doch endlich auf ein Grundsatzprogramm zu einigen.

Und was meint Nerz zu alldem? Er ist vorsichtig geworden - wie viele seiner Vorstandskollegen passt er im Gespräch mit Journalisten inzwischen ganz genau auf, was er sagt. Welchen Antrag zur Wirtschaftspolitik er am Besten findet? Kein Kommentar.

Stattdessen Grundsätzliches: Wichtig sei es, "Visionen" zu entwerfen. "Das ist ja gerade die Kritik an der Regierung Merkel", sagt er, "dass sie gerade einmal die Tagespolitik schafft, aber die großen Reformen nicht angegangen werden".

Konflikte vermeiden, Unverfängliches sagen, ein bisschen auf den politischen Gegner schimpfen: Nerz wirkt sehr professionell in solchen Momenten. Er hat nichts mit mehr dem Klischee-Piraten gemein, der sich gerne mal um Kopf und Kragen redet und seine Parteifreunde öffentlich angeht. Er hat dazugelernt in bald zwei Jahren Vorstandsarbeit.

Julia Schramm hingegen hat auf all das keine Lust mehr. Sie ist gegangen, hat ihr Vorstandsamt nach einem halben Jahr hingeschmissen. Im politischen Betrieb gilt so etwas gemeinhin als Niederlage. Doch Schramm will sich so gar nicht wie eine Verliererin benehmen. Sie steht aufgekratzt an einem Stehtisch außerhalb der Halle.

Vorsichtig sein oder draufhauen?

Lustvoll tut sie das, was Nerz sich verkneift: Ihre Meinung sagen. Zum Wirtschaftsprogramm zum Beispiel. "Ich bin ja sehr links", beginnt Schramm. Wie bitte, links? Lehnen Piraten nicht die Einteilung in links und rechts ab? Sie zuckt mit den Schultern. "Ich bin für eine Demokratisierung der Wirtschaft. Das ist eine klassische linke Forderung." Damit sei sie Teil des "radikalen" Flügels der Partei, sagt sie.

Schramm gestikuliert, lacht laut. Erst vor wenigen Wochen ist sie von einem selbst für Piraten historisch lang anmutenden Shitstorm weggeweht worden. Davon merkt man nichts mehr.

Sie blickt zurück: "Die Vorstandsarbeit hat mir gut gefallen, ich glaube, dass ich in der Verwaltung einen guten Job gemacht habe. Das war mir wichtig zu beweisen", sagt sie. "Aber ich bin kein Berufspolitiker und möchte es auch nicht sein." Um sie herum sei ein "negativer Personenkult" entstanden, das vertrage sich nicht mit dem piratigen "Themen statt Köpfe". Schramm sagt: "Ich will nicht, dass die Leute Dinge mit meinem Kopf assoziieren. Da musste ich den Druck rausnehmen."

Inzwischen hat sie wieder ganz in ihre alte Rolle zurückgefunden - als Stachel im Fleisch der Partei. "Gerade stänkere ich wieder für eine Quote", sagt sie und klingt stolz dabei.

Der besonnene Nerz, die impulsive Schramm: Sie stehen in ihrer Unterschiedlichkeit für eine Entscheidung über den Weg der Partei, die noch lange nicht getroffen ist. Sollen sich die Piraten bis zu einem gewissen Maß an das politische System anpassen - oder konsequent die Regeln brechen? Sollen sie die Regeln des Spiels akzeptieren - oder tun, worauf sie Lust haben? Vermitteln oder provozieren? Vorsichtig sein oder draufhauen? All diese kleinen Fragen lassen sich zu einer großen zusammenfügen: Wie wollen die Piraten arbeiten?

An diesem Bundesparteitag zeigt sich dieses unterschiedliche Politkverständnis in einem Antrag: jenem über die Einführung einer ständigen Mitgliederversammlung. Geht es nach den Antragstellern, soll die Parteibasis künftig auch zwischen den Parteitagen online über Positionspapiere abstimmen dürfen - gerade in Hinblick auf einen möglichen Einzug der Partei in den Bundestag.

"Problem mit Checks und Balances"

Parteivize Nerz ist dagegen. Im Bundestag, so argumentiert er, könne man nicht über jede Kleinigkeit abstimmen lassen. "Das wird nicht funktionieren." Zahlreiche Politikfelder gingen zu sehr in die Tiefe, als das sich jeder damit beschäftigen könne und solle.

Grundsatzfragen, sagt Nerz, sollten auf Parteitagen beschlossen werden. Daraus die richtigen Entscheidungen abzuleiten, sei dann Aufgabe der Abgeordneten. Immer wieder betont er deren Entscheidungsfreiheit.

Julia Schramm will für die ständige Mitgliederversammlung stimmen - auch wenn sie einige grundsätzlichen Bedenken ihres Vize-Vorsitzenden durchaus teilt. Aber sie findet: "Der Antrag tut doch keinem weh." Schließlich würden in der ständigen Mitgliederversammlung nur Positionspapiere verabschiedet.

Dass der Antrag angenommen wird, bezweifelt Schramm zwar. Er sei schlicht nicht mehrheitsfähig. Doch sie freut sich über die Diskussion. "Wir haben doch ein grundsätzliches Problem mit Checks und Balances", sagt sie. Klar, es geht hier auch um Macht. Die Basis, zu der Julia Schramm jetzt wieder gehört, hat natürlich Interesse daran, auch im Falle eines Bundestagseinzugs Einfluss auf die Abgeordneten zu behalten. "Was uns bei anderen Parteien nicht gefällt, ist doch gerade diese enorme Machtkonzentration. Dass Frau Merkel mal eben mit vier, fünf anderen über den Atomausstieg entscheiden kann."

Eine ständige Netz-Versammlung einzurichten, wird dieses Problem nicht lösen. Aber den Druck in Richtung Revolte, den wird er erhöhen. Das hofft zumindest die Basispiratin Schramm.

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