Zeitgeschichte:Wie Lösungen Probleme schaffen

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Diagnose der Weltprobleme: Joachim Sauer, Barack Obama und Angela Merkel beim G-7-Gipfel in Elmau. (Foto: Regina Schmeken)

Andreas Rödder hat ein glänzendes Kompendium der Gegenwart vorgelegt - voll wohltuender Skepsis und ironischer Brechungen.

Von Rainer Stephan

Erst einmal bleibt der Leser am Titel hängen. "21.0" - das klingt schon sehr schnittig, nach ultimativem Update oder sonst etwas Hipstermäßigem. Dagegen aber der wunderbar paradoxe Untertitel "Eine kurze Geschichte der Gegenwart" - als ob das einzig zuverlässige Kriterium, mit der sich Geschichte bislang von Soziologie, Politologie und anderen talkshowtauglichen Wissenschaften abgrenzen ließe, mit diesem Buch außer Kraft gesetzt wäre.

Gegenwart ist der gelebte Augenblick. Weswegen es schon logisch unmöglich bleibt, eine Geschichte der Gegenwart zu schreiben. Der Historiker Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mainz, schreibt sie trotzdem. Die Provokation, die darin steckt, könnte man natürlich abmildern, etwa mit dem Hinweis darauf, dass umgekehrt eine Geschichtsschreibung, die die Gegenwart gar nicht im Blick hätte, ein recht sinnloses Unterfangen wäre.

Kluge Vorsicht

Die einschlägige Zunftregel formulierte schon Friedrich von Schiller in seiner Antrittsvorlesung "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?": "Aus der ganzen Summe der Begebenheiten hebt der Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen Einfluss gehabt haben."

So redet auch Jürgen Osterhammel von seiner 2009 erschienenen Geschichte des 19. Jahrhunderts ("Die Verwandlung der Welt"), auf die sich Rödders Buch mehrmals bezieht, immer wieder als "Vorgeschichte der Gegenwart". Dennoch bedeutet der Unterschied zwischen "Vorgeschichte" und "Geschichte der Gegenwart" mehr als eine rhetorische Pointe.

Wer die Gegenwart als folgerichtiges Resultat vergangener Entwicklungen beschreibt oder gar die Vergangenheit als eine Art Pfeilerkonstruktion ausgibt, auf der sich die Gegenwart erhebt, suggeriert damit immer auch Gewissheiten, die einem auch nur einigermaßen kritischen Blick in Wahrheit kaum stand- halten. Das Gleiche gilt - überraschend nur auf den ersten Blick - auch für jene, die die Gegenwart als "Posthistorie" deuten, als kompletten Bruch mit der endgültig abgeschlossenen Vergangenheit.

Andreas Rödders Buch überzeugt dagegen gerade durch die kluge Vorsicht, mit der es solche Festlegungen vermeidet, indem es - vereinfacht gesagt - unsere Gegenwart nicht als Ergebnis einer vergangenen, sondern als Teilstück einer weiter fortlaufenden Geschichte darstellt, mit offen- bleibendem Ende. Wer, wie Rödder, allzu eindeutigen Diagnosen misstraut, bleibt auch den ganz großen Prognosen wie den entsprechenden Lösungsvorschlägen gegenüber wohltuend skeptisch.

Ratlos lässt einen das Buch deswegen keineswegs zurück. So kenntnisreich wie brillant benennt und kommentiert Rödder die Trends, die unsere Gegenwart - das heißt hier in erster Linie: die Gegenwart der westlichen Zivilisation aus deutscher Sicht - prägen, aber er lässt sich nirgends von ihnen in den Bann ziehen.

Die digitale Revolution, die Globalisierung der Ökonomie, die Energiewende, die Werteverschiebungen in der Bildungspolitik wie in der praktizierten Kultur, die Explosion der Konsumgesellschaft, die Rolle des Staats im Spannungsgefüge zwischen Kapitalismus und Demokratie, die mühsame europäische Integration und schließlich, schon mit Blick auf die Probleme einer globalen Migration, die Schwierigkeiten einer neuen Weltgesellschaft: Das sind die großen Kapitel, aus denen der Autor tatsächlich eine Art Gegenwartskompendium formt, und ein konkurrenzloses obendrein.

Das Allerbeste daran: Das immerhin an die 500 Seiten starke Buch liest sich ausgesprochen flüssig, nicht selten sogar vergnüglich.

Vorausgesetzt allerdings, man entwickelt Sinn für Rödders Neigung, seine im besten Sinne konservative Distanz gegenüber politisch-korrekten Konsens-Konzepten, statistisch nachgewiesenen Befunden oder zeitgeistigen Zauberformeln in kurzen Zwischenbemerkungen, ironischen Untertönen oder auch in nur scheinbar harmlosen etymologischen Schlenkern wie diesem zu verstecken: "Der Begriff der Inklusion leitet sich vom lateinischen includere für einfügen, einschließen oder einsperren ab."

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Das Beispiel ist hier nicht zufällig gewählt. Zwar führt Rödder im Bildungskapitel zunächst einleuchtend vor, wie die moralisch wie politisch legitimen Teilhabe-Ansprüche bisher ausgegrenzter Gruppen die Inklusion zur mittlerweile systemimmanenten Norm machten.

Doch macht er im weiteren Verlauf seines Buchs immer wieder deutlich, dass er das Vertrauen in die "Kultur der Inklusion" zumindest da nicht bedingungslos teilt, wo Inklusion einfach als Metapher für Konflikteinebnung und Scheinlösungen steht. Noch im Schlusskapitel verweist der Autor auf die Warnung des amerikanischen Soziologen Talcott Parsons, dass "jeder Inklusion als logischer Schatten Exklusion nachfolgt." Mit anderen Worten, so Rödder: "Die Frage, welche Benachteiligung als ausgleichswürdig anerkannt wird, war immer auch eine Machtfrage."

Auch wenn es anders zu sein scheint: Oft geben auch Lobbyinteressen den Ausschlag

So geben selbst da, wo es anscheinend nur um Menschenwürde und Persönlichkeitsrechte geht, am Ende immer auch Lobbyinteressen den Ausschlag. Rödder zeigt das am Zusammenspiel von Feminismus und Kapitalismus, das die politische Aufmerksamkeit (inklusive arbeitsrechtlicher und steuerlicher Privilegierung) vom herkömmlichen Familienmodell auf eher individuums- und leistungsorientierte Lebensformen gerichtet hat.

Nicht nur an diesem Beispiel zeigt sich: Die Gegenwart kann ihrer eigenen Geschichtlichkeit nicht entrinnen. Jede Lösung schafft ihre neuen Probleme. Und wer ständig auf ganz große, ja womöglich auf endgültige Lösungen aus ist, gerät besonders leicht ins Chaos.

In ganz anderem Zusammenhang, nämlich im Blick auf die deutlich weniger lösungs- als problemorientierte Politik der deutschen Bundeskanzlerin in der Ukraine-Krise schreibt Rödder: "Angela Merkel hatte keine Vision, aber sie hätte 1914 möglicherweise den Ausbruch des Weltkriegs verhindert."

Ein durchaus riskanter Satz, ja. Aber irgendwie leuchtet er ein.

© SZ vom 22.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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