Weißrussland: Opposition im Exil:Mit Skype gegen den Alleinherrscher

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Er ließ die Wahl fälschen und Oppositionelle mit Schlagstöcken verprügeln: Vor sechs Monaten machte Weißrusslands Präsident Lukaschenko seinem Ruf als "letzter Diktator Europas" alle Ehre. Wie drei junge Weißrussen den Gewaltexzess des Regimes erlebten - und nun von Litauen aus für Demokratie in ihrer Heimat kämpfen.

Matthias Kolb, Vilnius

Monatelang hatte Juri Aleinik das Wahlkampfbüro des Oppositionskandidaten Wladimir Nekljajew in der weißrussischen Hauptstadt Minsk geleitet. Alles war auf den 19. Dezember 2010 ausgerichtet: An diesem Sonntag waren die Weißrussen aufgerufen, ihren Präsidenten zu wählen - und an diesem Sonntag musste Aleinik er mitansehen, wie sein Chef von vermummten Polizisten bewusstlos geprügelt wurde.

Dieses Foto symbolisiert die Brutalität des weißrussischen Regimes gegenüber der Opposition. Der Dichter und Präsidentschaftskandidat Wladimir Nekljajew (Uładzimier Niaklajeŭ) wurde am Wahlabend von Sicherheitskräften so hart geschlagen, dass er das Bewusstsein verlor. (Foto: REUTERS)

Wenn der 26-Jährige heute an diesen Tag zurückdenkt, dann kommen ihm starke Bilder in den Sinn: Mit etwa 30.000 Menschen protestierte er im Zentrum von Minsk gegen die Wahlfälschungen. Als die Sicherheitskräfte die Versammlung mit brutaler Gewalt auflösten, versteckte sich Aleinik mit einem Freund in einer unter falschem Namen gemieteten Wohnung. "Uns war klar: Wir sind in Gefahr", erinnert er sich.

Die beiden flüchteten: Ein Bekannter fuhr sie im Auto über die weißrussisch-russische Grenze, wo kaum Passkontrollen stattfinden. Von Sankt Petersburg aus ging es weiter nach Finnland und mit der Fähre nach Estland. Freunde brachten sie nach Vilnius. "Wir wollten hierher, denn die Stadt liegt in der EU und ist nur 30 Kilometer von der Heimat entfernt."

In Vilnius ist Aleinik nicht völlig allein: Seine Frau ist zwar in Minsk geblieben, aber sie kann ihn ebenso besuchen wie seine Eltern. Zwölf weitere Oppositionelle sind mit ihren Familien nach Litauen geflohen, wo sie eine Aufenthaltsgenehmigung erhielten.

Laptop als wichtigstes Instrument

Der Alltag verläuft problemlos: Die älteren Litauer sprechen Russisch, die anderen Englisch. Zudem studieren 1800 Weißrussen an der Europäischen Humanistischen Universität (EHU), die 2005 in Vilnius wiedereröffnet wurde, nachdem Lukaschenko die Hochschule geschlossen hatte. Mehrere Nichtregierungsorganisationen haben ihre Büros nach Litauen verlegt, um der Bespitzelung des weißrussischen Geheimdienstes KGB zu entfliehen.

Auch Juri Aleinik hat eine NGO gegründet: Die "Zivile Demokratische Vertretung Weißrusslands" möchte zeigen, dass Präsident Lukaschenko nicht für sein Volk spricht, wenn er etwa EU-Kommissionspräsident Barroso als "Ziegenbock" beschimpft. Aleiniks wichtigste Waffe ist sein Laptop, mit dem er sich nicht nur mit Oppositionellen in Polen und der Ukraine austauscht: "Mit Hilfe des Internets, Skype und sozialen Netzwerken wie Facebook ist es leicht, den Kontakt mit Aktivisten in ganz Weißrussland zu halten. Wir planen gerade Protestaktionen auf den Straßen - und die Koordination läuft nur online."

Am gestrigen Mittwoch versammelten sich in mehr als einem Dutzend weißrussischer Städte Tausende Menschen zu Spaziergängen, um auf stille und friedliche Art gegen das Regime zu protestieren. Etwa 450 Teilnehmer wurden nach Angaben von Menschenrechtlern verhaftet.

Dank unabhängigen Websites wie naviny.by wissen die Lukaschenko-Gegner, dass in der Heimat Hunderte Autofahrer gegen die Rationierung von Benzin an einem Grenzübergang nach Polen protestiert haben oder dass China dem hochverschuldeten Land einen Milliardenkredit gewährt hat. Doch es gibt noch bessere Quellen: Augenzeugenberichte von Gleichgesinnten. Zum Glück könnten sie ihre Helfer nach Vilnius einladen, berichtet Aleinik, wenn diese ein Visum von der litauischen Botschaft erhielten: "Von Minsk aus sind sie mit dem Auto in drei Stunden in Vilnius."

Die Treffen finden meist im Weißrussischen Menschenrechtshaus statt, das von einer norwegischen Stiftung finanziert wird und in dem viele Oppositionelle die ersten Nächte nach der Flucht verbrachten. Im Computerraum im ersten Stock bekommen die Aktivisten in Seminaren Tipps, wie sie sich bei einer Verhaftung verhalten sollen und lernen, im Internet keine Spuren zu hinterlassen.

Juri Aleinik hat sich in Vilnius gut eingerichtet, doch wirklich einleben will er sich nicht. Der 26-Jährige ist überzeugt, dass er in Minsk am meisten für sein Land tun kann: "Ich möchte so schnell wie möglich zurück. Die wirtschaftliche Situation ist so schlecht, dass es sich das Regime nicht leisten kann, Oppositionelle ins Gefängnis zu schicken."

Weißrussland nach der Wahl
:Prügel gegen den Protest

Tausende Weißrussen gehen gegen den umstrittenen Wahlsieg von Präsident Alexander Lukaschenko auf die Straße. Die Polizei reagiert mit Härte. Sie verhaftet etwa 1000 Demonstranten - und mehrere Präsidentschaftskandidaten. In Bildern.

Maksim Milto stand am Abend des 19. Dezember 2010 auf dem Oktoberplatz in Minsk. In den Tagen zuvor hatten alle über den ploscha geredet, über die Aktionen auf dem Platz. Im Winter 2006, als sich Präsident Lukaschenko das letzte Mal im Amt bestätigen ließ, hatten einige hundert Demonstranten mehrere Tage aus Protest gegen die Fälschungen auf dem Platz campiert. Die Worte sprudeln aus dem 19-jährigen Maksim heraus, wenn er sich an jenen Abend erinnert: "Von allen Seiten strömten immer mehr Menschen auf den Platz, sie riefen 'Freiheit für Weißrussland' und marschierten schließlich durch das Zentrum von Minsk."

Der 19-jährige Maksim Milto vertritt als Sprecher die Interessen der weißrussischen Studenten der Europäischen Humanistischen Universität (EHU) in Vilnius. (Foto: oH)

Eines machte Maksim besonders stolz: "Unter den Demonstranten habe ich viele Studenten der EHU gesehen." Die Abkürzung EHU kennt fast jeder Weißrusse: Die Europäische Humanistische Universität war 1992 in Minsk gegründet worden und gilt als beste Hochschule des Landes. 2004 ließ sie Lukaschenko schließen, weshalb der Unterricht seit 2005 in Vilnius stattfindet. Maksim ist seit einem Jahr Sprecher der EHU-Studenten. Als die Fahrzeuge der Sicherheitskräfte auf den Platz fuhren, rannte er mit einem Freund davon. In der gleichen Nacht fuhren sie mit dem Auto nach Vilnius zurück und organisierten am nächsten Vormittag eine Protestkundgebung vor der weißrussischen Botschaft.

Äußerlich sind Maksim und seine Kommilitonen Maria Stepanowa und Andrej Majewski nicht von litauischen Studenten zu unterscheiden. Sie besitzen schicke Handys und würden mit ihren Klamotten auch in Berlin nicht auffallen. Es sind junge Leute, die sich dafür entschuldigen, dass sie noch nicht auf Deutsch diskutieren können - und deswegen schnell ins Englische wechseln, das alle exzellent beherrschen. Doch ihr kritisches Denken lässt ahnen, weshalb die EHU nicht ins Weltbild des früheren Sowchose-Direktors Lukaschenko passt.

Maksim wurde in Vilnius geboren, doch seine Eltern zogen 1992 mit ihm nach Minsk. Sie sind der Grund, weshalb er alle drei Monate in die weißrussische Hauptstadt fährt. "Es fällt mir schwer, länger als zwei Tage dort zu bleiben. Vieles deprimiert mich", sagt der junge Mann.

Kritisches Denken unerwünscht

Die Ausbildung in technischen Fächern sei relativ gut in Weißrussland, doch kritisches Denken sei unerwünscht, berichtet Maksim. "Was soll ich in einem sozialwissenschaftlichen Studium lernen, wenn mir an der Uni Kurse im Fach Ideologie' vorgegeben sind?", fragt er. Obwohl über Politik nur mit Freunden und Familienmitgliedern geredet werde, sei das Thema überall präsent.

"Lukaschenko hat viele populäre Musiker mit einem Auftrittsverbot belegt", sagt Maksim. Dazu gehört die Ska-Band Lyapis Trubetskoy, die mit ironischen Texten im ganzen russischsprachigen Raum Erfolge feiert und deren CDs auch in Deutschland erschienen sind. Als die Gruppe ein Konzert in Vilnius gab, rief Maksim beim weißrussischen Studentenverband an und lud seine Kollegen ein: "Wollt ihr nicht mit uns feiern?" Die Gegenfrage kam schnell: "Hat das irgendwas mit Politik zu tun?" Auf den angekündigten Rückruf wartet Maksim bis heute - im Weißrussland kann es noch im Jahr 2011 gefährlich sein, eine Band zu hören, die das Regime verachtet.

Allerdings ist die Skepsis der Studentenfunktionäre nicht unberechtigt: Die Leute aus dem EHU-Kosmos spielen in der Opposition eine wichtige Rolle. Etwa 100 Studenten überprüften als election observers die Kommunal- sowie die Präsidentschaftswahl, andere engagierten sich für Oppositonskandidaten.

"Einige Dutzend EHU-Studenten wurden nach der Wahl verhaftet oder zu Arrest verurteilt", berichtet Maksim, für den das Verfassen von Beschwerdebriefen an internationale Organisationen zum Alltag als Studentensprecher gehört. Eines möchte sein Freund Andrej, der Politikwissenschaft studiert, jedoch festhalten: "Es ist keineswegs so, dass wir zu Revolutionären erzogen werden." Überall auf der Welt fragten sich Jugendliche, ob in ihrer Gesellschaft alles in Ordnung sei.

Wie unterschiedlich der Alltag in den beiden Nachbarstaaten ist, illustriert Maksim mit zwei Beispielen. Jährlich dürften 28 weißrussische Studenten am Erasmus-Programm teilnehmen, während von Litauen aus 7000 junge Leute nach Europa aufbrechen würden. "Dabei leben in Weißrussland drei Mal so viele Menschen wie in Litauen."

Noch erschreckender ist die Überwachung von sozialen Netzwerken wie Facebook und dem russischen Pendant V Kontakte. "Studenten an staatlichen Hochschulen, die nach der Wahl lukaschenko-kritische Sprüche oder Slogans wie 'Freiheit für Weißrussland' an ihre Pinnwand schrieben, wurden zum Rektor vorgeladen und ins Kreuzverhör genommen", schildert Maksims Kommilitonin Maria. Für einen EHU-Studenten klingen solche Geschichten unvorstellbar.

Viele kehren nach dem Studium in Vilnius auch nach Weißrussland zurück, um sich dort selbständig zu machen oder für eine Nichtregierungsorganisation zu arbeiten. Die Verbundenheit mit der Heimat bleibe für viele groß, berichtet Maria aus eigener Erfahrung: "Ich fahre alle zwei Wochen nach Minsk. Probleme mit den Grenzbeamten sind zum Glück sehr selten."

Die Studenten sehen ihre Zeit in Vilnius nicht nur als Chance, sich selbst weiterzuentwickeln. "Mit einer guten Ausbildung können wir unserem Land hoffentlich bald helfen, seinen Platz in Europa zu finden", argumentiert Maksim. Es habe Vorteile, im Exil zu studieren: Die Lehrinhalte werden nicht politisch beeinflusst und jeder EHU-Student habe zudem die Chance, dem Rest der Welt zu erklären, dass es noch ein anderes Weißrussland neben dem Land von Lukaschenko gibt.

Anastasija Matchenko hatte wochenlang auf den 19. Dezember hingearbeitet. Den Wahltag verbrachte die 25-Jährige in einem Minsker Wahllokal, um den Ablauf der Abstimmung zu überwachen. Seit 2009 hatte die junge Weißrussin etwa 100 Studenten der EHU zu Wahlbeobachtern ausgebildet und mit ihnen Abstimmungen in Litauen, Polen oder Georgien verfolgt. Sie sieht in ihrem Engagement einen wichtigen Beitrag für die Demokratisierung: Die Regierung soll mittelfristig unter Druck gesetzt werden und die jungen Weißrussen mit eigenen Augen sehen, wie freie und faire Wahlen ablaufen können.

Ihr Fazit fällt eindeutig aus: "Es ist rund um den 19. Dezember zu zahlreichen Fälschungen gekommen." Oftmals hätten die Beobachter gar keine Möglichkeit bekommen, das Geschehen im Wahllokal und die Auszählung der Stimmzettel zu verfolgen. Sie hält die Diskussion über das genaue Ergebnis für nebensächlich: Unbestritten sei, dass Amtsinhaber Lukaschenko weniger als 79,3 Prozent der Stimmen erhalten habe.

Stephan Malerius von Weißrussland-Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Vilnius geht davon aus, dass nur wenige Eingeweihte das genaue Resultat kennen: "Die Vermutungen reichen von 44 bis knapp über 50 Prozent". Der Experte nennt in einem Bericht eine These für den Gewaltexzess: Das Ergebnis sei ein erster Schock für Alleinherrscher Lukaschenko gewesen, der sich selbst als "Vater aller Weißrussen" sieht und deshalb "Batka" genannt wird. Die Erschütterung über die vielen Demonstranten sei "in blindes Rasen" umgeschlagen und habe zu dem "folgenschweren Befehl geführt, für dessen Ausführung sich umgehend willige Handlanger fanden".

Reiche Weißrussen auf Shoppingtour in Vilnius

Matchenko sagt, sie habe bisher keine Probleme wegen ihrer Arbeit gehabt: "Nachdem ich kurz vor Weihnachten nach Vilnius zurückkehrte, beschloss ich für drei Monate nicht mehr nach Minsk zu fahren." Nach Beratungen mit Kollegen und Menschenrechtsanwälten wollte sie kein Risiko eingehen.

Matchenko arbeitet in Vilnius für die NGO Belaruswatch. Das kleine Büro befindet sich im zweiten Stock des Menschenrechtshaus und so ist sie nicht nur auf Skype und Facebook angewiesen, um Kontakt zu Aktivisten zu halten und genau zu wissen, was in der Heimat passiert. Die Schilderungen sind deprimierend: "Fast alle Weißrussen sind verzweifelt wegen der wirtschaftlichen Lage. Alle hamstern Lebensmittel, weil sie Angst haben, dass ihr Geld an Wert verliert. Meine Freundinnen kaufen Unmengen von Kosmetika."

Die ökonomischen Probleme Weißrusslands sieht sie täglich: In den vergangenen Monaten haben Tausende Weißrussen in Litauen gebrauchte Autos gekauft. "Am 1. Juli treten wir der Zollunion mit Russland und Kasachstan bei, wodurch die Einfuhrzölle für Autos steigen", erklärt ihr Kollege Wadim Wileita. Zugleich fahren reiche Weißrussen mit ihren teuren Limousinen nach Vilnius, um sich in Shopping-Malls zu amüsieren. "Die Hälfte unserer Kunden kommt aus Weißrussland", verrät die Verkäuferin einer Nobelboutique.

Visagebühren sollten abgeschafft werdem

Sie sei nicht wütend, wenn sie einen Mercedes aus Minsk sehe, meint Matchenko. Es motiviere sie vielmehr: Belaruswatch fordert die Abschaffung der Visagebühren. "Für die Mitglieder der Nomenklatura sind 60 Euro kein Problem, doch für normale Weißrussen ist es viel Geld", erklärt sie. Ähnlich argumentiert Wadim Wileita: In dieser Frage könnten die EU-Staaten beweisen, dass sie die Demokratiebewegung in Weißrussland nicht nur mit warmen Worten unterstützen: "Das größte Problem bei unseren Projekten besteht meist darin, Einreisegenehmigungen für die weißrussischen Teilnehmer zu erhalten. Wenn dies nicht gelingt, dann ist nicht die Diktatur in Minsk schuld, sondern die Bürokratie der EU-Länder."

Auch Stephan Malerius befürwortet eine Abschaffung der Visagebühren. "Erstmals seit 1991 wünschen sich in Umfragen 51 Prozent der Weißrussen eine enge Anbindung an die EU", berichtet der Experte der Adenauer-Stiftung. Nur noch ein gutes Drittel sehe Russland als bevorzugten Partner. Laut Malerius existiert ein direkter statistischer Zusammenhang: "Wer schon mal ein EU-Land besucht hat, der unterstützt eine Annäherung an Europa."

Matchenko führt noch zwei weitere Gründe an: Bei einem Besuch in der Europäischen Union könnten die Weißrussen selbst sehen, wie Demokratie funktioniere und zugleich würden sie selbst erfahren, dass die Europäer keineswegs Feinde Weißrusslands sein, wie es die lukaschenko-treuen Medien permanent verbreiten. Dies könne dazu beitragen, den Glauben an das Regime weiter zu unterminieren.

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