Wahlprognose:Der schwebende Holländer

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Jesse Klaver wird als niederländischer Justin Trudeau gefeiert. (Foto: AFP)
  • Vor den Parlamentswahlen an diesem Mittwoch haben sich angeblich 40 Prozent der Niederländer noch nicht entschieden, wie sie abstimmen.
  • Am wahrscheinlichsten dürfte eine Koalition der Mitte sein, unter Führung des bisherigen Ministerpräsidenten Mark Rutte.
  • Der Aufstieg der Grünlinks-Partei ist bemerkenswert. Sie dürfte laut Umfragen ihren Stimmenanteil vervierfachen.

Von Thomas Kirchner

Ein schöner Begriff im Niederländischen ist der zwevende Kiezer, der schwebende Wähler. Gemeint sind die Unentschlossenen, die sich keiner Partei fest zugehörig fühlen und ständig wechseln. Ihr Anteil sei über die Jahre von einem auf mehr als zwei Drittel gestiegen, sagen Experten - der höchste Wert in Europa. Das macht Ergebnisse schwer vorhersehbar. Derart groß ist die Unsicherheit inzwischen, dass wenige Tage vor der Wahl an diesem Mittwoch angeblich 40 Prozent noch immer nicht wissen, an welcher Stelle sie mit dem in den Niederlanden üblichen roten Buntstift ihr Kreuz setzen sollen.

Umso wichtiger wäre es da eigentlich gewesen, in den Fernseh- und Radiodebatten der vergangenen Wochen Akzente zu setzen. Darauf aber wartete man vergeblich. Der Populist Geert Wilders, der früher des Öfteren in solchen Runden provozierte, hatte diesmal fast alles abgesagt. Lediglich mit Rutte lieferte er sich ein TV-Duell - Ausgang: unentschieden . Ansonsten gelang es keinem der anderen führenden Kandidaten, sich entscheidend zu profilieren.

Der Spitzenmann der Sozialdemokraten, Lodewijk Asscher, ist so blass geblieben, dass seine Partei der Arbeit auf eine katastrophale Niederlage zusteuert. Laut Umfragen könnte sie von 38 auf zwölf Mandate abstürzen. Der nächsten Regierung würde sie dann mit einiger Sicherheit nicht mehr angehören. Sie erhält offenbar die Quittung für die Zustimmung zu den harten Einschnitten bei Sozialleistungen, die sie in den vergangenen fünf Jahren mitverantwortet hat. Der "progressive Patriotismus", für den der bisherige Sozialminister und Vizepremier Asscher wirbt, kommt bei den Niederländern nicht an. Selbst linke Medien sehen in ihm eine "falsche Wahl".

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Am wahrscheinlichsten dürfte daher eine Koalition der Mitte sein, ein Regierungsbündnis von vier oder fünf kleineren Parteien unter Führung des bisherigen Ministerpräsidenten Mark Rutte. Er würde damit sein drittes Kabinett anführen. Der dauerlächelnde Rechtsliberale hat ein paar Versprechen gebrochen, aber das Land immerhin aus einer tiefen Wirtschaftskrise manövriert.

Er verteidigt die europäische Zusammenarbeit, würde sie jedoch am liebsten auf Euro, Binnenmarkt, Kampf gegen den Terror und die Sicherung der Energieversorgung beschränken. In der Einwanderungspolitik und in Identitätsfragen hat er jüngst versucht, sich als seriöse Alternative zu Wilders zu positionieren, unter anderem mit einem offenen Brief, in dem er Einwanderer aufforderte, sich "normal" zu benehmen oder das Land zu verlassen.

Seine Partei lehnt es ab, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, und fordert, sie möglichst in der Nähe der Krisenregionen unterzubringen und zu versorgen. Am Wochenende nutzte er die Attacken der türkischen Regierung auf die Niederlande als Wahlhilfe.

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Auch von dem konservativen Christdemokraten Sybrand van Haersma Buma sind solche Töne zu hören; vehement verteidigt er niederländische Werte und Traditionen, die EU sieht er noch kritischer als Rutte. Sein CDA, der das Land jahrzehntelang dominierte, hat wieder etwas Tritt gefasst und bietet sich jetzt als Koalitionspartner an. Aber auch die linksliberale D66 unter Alexander Pechtold, die kürzlich eine Legalisierung des Cannabis-Anbaus forderte, könnte mit Rutte koalieren.

Selbst Grünlinks wäre ein möglicher Partner. Der Aufstieg der Partei ist bemerkenswert. Sie dürfte laut Umfragen ihren Stimmenanteil vervierfachen. Ihren Kandidaten, den erst 30 Jahre alten Jesse Klaver, feiern manche Medien als niederländischen Justin Trudeau, weil er sich in Auftreten und Aussehen an dem kanadischen Premier orientiert. Seine "Meet-ups" ziehen bis zu 6000 Menschen an. Klaver hat marokkanische und indonesische Wurzeln, er wirbt entschieden für die EU und eine großzügige Flüchtlingspolitik und will den "rechten Wind" in Europa stoppen.

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Von Thomas Kirchner

Insgesamt treten 28 Parteien an, elf sitzen im Parlament. Die Niederlande sind politisch extrem zersplittert; es gibt keine Sperrklausel. 2012 reichten schon etwa 60 000 Stimmen für eines der 150 Mandate. Die früheren "Volksparteien" sind enorm geschrumpft, dafür sieht sich nun fast jede gesellschaftliche Gruppe durch eine Partei vertreten: die Senioren (50plus), die Tierfreunde, verschiedene Konfessionen, die Immigranten (Denk und Artikel 1), sogar die Nichtwähler. Allein aus dem Referendum gegen das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine entstanden in jüngster Zeit drei rechtslastige Neugründungen; sie dürften indes kaum auf einen Parlamentssitz kommen.

Eines scheint angesichts der Zersplitterung aber ziemlich sicher zu sein: Die Regierungsbildung, die traditionell Monate dauert, dürfte diesmal schwieriger werden als je zuvor.

© SZ vom 10.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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