Wahlen in Myanmar:Wo ein neuer Staat entsteht

Myanmar, das Land des ewigen Stillstandes, erlebt eine Revolution. Dass Aung San Suu Kyi von einer unterdrückten Aktivistin zur politischen Mandatsträgerin avanciert, ist zwar noch kein Beleg für den Sieg der Demokratie. Doch niemand personifiziert die Hoffnungen und Sehnsüchte einer ganzen Nation so sehr wie sie. Das erstaunliche am Reformprozess ist, dass er von oben kommt.

Tobias Matern

Es entsteht ein neuer Staat auf der Weltkarte. Zwar wechselt weder der Name noch der geographische Zuschnitt des Landes. Aber die innere Verfasstheit verändert sich. Myanmar, das Land des ewigen Stillstandes, erlebt eine Revolution. Die Menschen erlauben sich neuerdings kritische Bemerkungen über die regierende Partei, die dem Militär nahesteht. Sie lehnen sich - früher undenkbar - gegen Projekte wie den Bau eines Staudamms auf und setzen sich am Ende sogar durch. Sie sprechen über ihre Wünsche, auch wenn das Wort Demokratie dabei selten vorkommt: Sie wissen noch nicht, was das eigentlich bedeutet.

Wie könnten sie auch? 50 Jahre lang lebten die Myanmaren in einem von Generälen beherrschten Unrechtssystem. Sie wurden bespitzelt, weggesperrt, ihr Land wurde international geschnitten, galt als Paria. Die Geschäfte liefen nur für Günstlinge des Regimes. Doch die Masse der Menschen blieb bitterarm. Aufstände schlug das Militär nieder.

Die prominenteste Frau des Landes lebte trotz internationalen Protests 15 der vergangenen 20 Jahre in Unfreiheit. Aber jetzt stehen die Chancen für einen nachhaltigen Wandel gut. Und niemand personifiziert die Hoffnungen und Sehnsüchte einer ganzen Nation so sehr wie Aung San Suu Kyi. Die Ikone des demokratischen Widerstands hat im Alter von 66 Jahren zum ersten Mal in ihrem Leben für ein politisches Mandat kandidieren können und wird nun wohl ins Parlament einziehen - ein Meilenstein.

Das erstaunliche am Reformprozess: Er kommt von oben. Die Junta ließ im November 2010 wählen, sie manipulierte die Abstimmung, streifte aber anschließend die Uniformen ab. Vor allem Präsident Thein Sein, ein früherer General, hat verstanden: Sein Land ist derart heruntergewirtschaftet, dass es radikaler Neuerungen bedarf. Er will den Einfluss des übermächtigen Nachbarn China drosseln und die Sanktionen der USA und der EU loswerden. Er will Myanmars strategische Optionen erweitern.

An der Schnittstelle zwischen Indien und China eröffnet sich für den Westen die große Chance auf einen wichtigen Verbündeten. Will Myanmar diese Rolle übernehmen, braucht der Präsident Aung San Suu Kyi, die international geachtete Friedensnobelpreisträgerin.

Aung San Suu Kyis Spielraum erweitert sich

Dass Aung San Suu Kyi von einer unterdrückten Aktivistin zur politischen Mandatsträgerin avanciert, ist noch kein Beleg für den Sieg der Demokratie. Sie geht ein pragmatisches Bündnis mit den Männern ein, die sie jahrelang schikaniert haben. Suu Kyi zieht in ein Parlament ein, in dem nach wie vor die große Mehrheit der Abgeordneten dem Militär nahesteht. Dennoch erweitert sich ihr Spielraum. Sie hat nun eine öffentliche Bühne innerhalb des Systems, sie kann von dort aus an weiteren Veränderungen arbeiten. Den politischen Überlebenskampf hat sie gewonnen.

Aung San Suu Kyis Macht reicht schon jetzt weiter, als das einfache Abgeordnetenmandat vermuten lässt. Die vom Westen vorsichtig vorangetriebene Öffnung gegenüber Myanmar kann sie maßgeblich steuern. Denn gegen ihren Willen werden die USA und die EU die Sanktionen nicht umfassend lockern.

Die Zeit für die Aufhebung dieser Sanktionen ist nun gekommen. Die Hardliner und Anhänger der alten Ordnung sind in der Regierung marginalisiert, wenn auch nicht ausgeschaltet. Eine weitreichende Lockerung der Strafmaßnahmen würde den sinnvollen Weg des Staatschefs stützen.

Die Geschäfte in Myanmar, nicht zum Nutzen der Bevölkerung, hat bislang vor allem China gemacht. In der Textilbranche sind durch die westlichen Exportbeschränkungen Tausende Jobs verlorengegangen. Der Verweis auf die Sanktionen diente dem Regime als willkommenes Argument, um vom eigenen ökonomischen Missmanagement abzulenken. Myanmar braucht nicht nur die Investitionen, sondern auch die Entwicklungshilfe und ausländische Experten, die den Aufbau eines maroden Staatswesens auf den Weg bringen können. China hat in dem Bereich wenig zu bieten.

Das einzige Gefängnis ist die Angst, und die einzige Freiheit ist die Freiheit von der Angst", hat Aung San Suu Kyi einmal gesagt. Ihr Land unternimmt nun erste Gehversuche auf dem Weg zur Freiheit. Die Angst, wieder in die düsteren Zeiten der Militärherrschaft zurückzufallen, hat sich noch nicht verflüchtigt. Doch die Hoffnung ist stärker. Die Presse darf freier berichten, es bilden sich Gewerkschaften, das Gesetz zum Landbesitz soll geändert und der Finanzsektor reformiert werden. Der offizielle Wechselkurs zum Dollar wird aus dem Reich der Phantasie in die ökonomische Realität geholt. Die Regierung bemüht sich auch um Verhandlungen mit den aufständischen Minderheiten. All dies geschieht in einem atemberaubenden Tempo.

Myanmar ist am Tag nach dem Urnengang und Aung San Suu Kyis persönlichem Triumph noch kein freier Staat. Aber die Abstimmung ermöglicht es der Aktivistin in die Rolle der politischen Gestalterin zu wechseln. Aung San Suu Kyi wird wie eine Heilige verehrt. Sie muss im Jahr 2015 bei den nächsten regulären Wahlen die faire Chance erhalten, ihr Lebenswerk mit dem Amt als Präsidentin krönen zu können.

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