Wahlen in der Türkei:Zwischen Täuschung und Träumerei

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Seine Machtbasis bröckelt: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Grab von Mustafa Kemal Atatürk, dem Republikgründer. (Foto: AP)

Sonntag wählen die Türken mal wieder ein neues Parlament, der Präsidentenpartei AKP droht eine Enttäuschung. Der Wahlkampf wurde überschattet von Rachegefühlen.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Ob sich in vielen Jahrzehnten die Touristen beim Anblick der Çamlıca-Moschee, die dann vielleicht Recep-Tayyip-Erdoğan-Moschee heißt, einmal diese Geschichte erzählen? Der damalige Herrscher, ein Mann, der aus armen Verhältnissen kam, konnte von allem nicht genug bekommen: Nicht vom Ansehen. Nicht von der Macht. Nicht von der Erinnerung an seine Person.

Deshalb setzte er sich überall im Land seine Denkmäler. Und das größte in Istanbul: Die Çamlıca-Moschee. Mit sechs Minaretten, die gerade in den Himmel wachsen, kann es dieses Bauwerk größenmäßig mit der Sultanahmet-Moschee aufnehmen, der Istanbuler Hauptmoschee. Ohne die gesehen zu haben, hat man Istanbul nicht gesehen.

Auf dem Hügel von Çamlıca weht einem der Wind um die Ohren. Die Stadt wird zu dieser Moschee aufschauen müssen. Sie ist nicht zu übersehen. Ergin Külünk vollendet dieses Werk für Erdoğan. Ein wuchtiger Mann, bald 65 Jahre alt, sitzt an seinem Schreibtisch. Weißer Schnauzer, die Hände so groß und stark, als würde er draußen gleich mit anpacken. Baustellenlärm dringt herein. Külünk erzählt, was auf diesem Boden tatsächlich entsteht: "Dieses Projekt hat eine Dimension, die mit der Türkei zu tun hat. Europa wird auf uns schauen, wenn die Moschee 2016 fertig wird. Erdoğan hat Brücken und Tunnel gebaut. Aber das hier, das ist eine geistige Arbeit. Es ist die Krönung."

Erdoğan - tragischer Zerstörer des eigenen Erfolgs?

Erdoğans Partei, die AKP, regiert das Land seit 2002. Unter ihm als Regierungschef hat die Türkei die größten Veränderungen erlebt, seitdem Mustafa Kemal Atatürk die Republik auf den Trümmern des Osmanischen Reichs gründete. Er brachte den wirtschaftlichen Aufschwung, das internationale Ansehen, die Modernisierung. Die Krönung aber, die verwehrte ihm das Volk.

Am Sonntag wählen die Türken ein neues Parlament. Danach wird man vielleicht der Antwort ein Stück näher kommen, in welcher Rolle Erdoğan dem Land im Gedächtnis bleiben wird: Als Erneuerer der Türkei oder aber als tragischer Zerstörer seines eigenen Erfolgs? Wie es aussieht, wird die AKP wieder mit Abstand stärkste Kraft. Die Umfragen sehen die islamisch-konservative Partei bei gut 40 Prozent.

Das ist aber kein Ergebnis, mit dem sie gut leben kann. Am 7. Juni hatten die Türken schon einmal abgestimmt. Damals war die AKP von fast 50 auf 41 Prozent abgestürzt. Am schlimmsten war für die Partei, dass sie das Land nicht mehr alleine regieren konnte. Erdoğan wollte sich zum absoluten Herrscher machen, per Verfassungsänderung ein Präsidialsystem mit ihm als Superpräsidenten einführen. Das wäre für ihn die Krönung gewesen.

Die Schwächung der Regierungspartei AKP ist der Erfolg der HDP

Dieser Wahlkampf ist anders als der im Juni. Es ist ein Wahlkampf im Schatten der Gewalt, im Zeichen der Verzweiflung. Wie lang hat man Selahattin Demirtaş schon nicht mehr lachen gesehen? Der humorvolle, oft freche Politiker hat die oppositionelle pro-kurdische Partei HDP mit 13 Prozent ins Parlament geführt. Demirtaş hatte den Leuten versprochen, es nicht zuzulassen, dass Erdoğan so mächtig wird, wie der sich das wünschte. Er hielt Wort.

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Es liegt am guten Ergebnis der HDP, dass die AKP nicht mehr alleine regieren kann. Seit diesem Tag ist die Türkei ein anderes Land. "Da hast Du Deine neue Türkei!" - schleuderte die regierungskritische Presse am regnerischen Morgen nach der Juni-Wahl Erdoğan entgegen. Aber da ahnte niemand, was wirklich auf dieses Land zukommen würde: Der Kurdenkonflikt ist wieder vollentbrannt. Terroranschläge erschüttern das Land. Die Fanatiker der Terrormiliz Islamischer Staat sollen dahinter stecken. Auch die PKK - sagt zumindest die Regierung.

Vor der Juni-Wahl hatten die Türken noch mit HDP-Chef Demirtaş gelacht, als der sich darüber lustig machte, wie sich Erdoğan in den Wahlkampf einmischte. Fast jeden Tag feierte er eine Eröffnung von Irgendwas. Als es Demirtaş zu bunt wurde, trat er im Fernsehen auf, und "eröffnete" eine Limoflasche. Diese Leichtigkeit hat Demirtaş verloren, wenn er auftritt.

Als am 20. Juli in Suruç, der Grenzstadt zu Syrien, ein Selbstmordattentäter 33 Menschen mit sich in den Tod riss, waren besonders viele Kurden darunter. Beim Ankara-Attentat mit mehr als 100 Toten gingen zwei Bomben inmitten seiner Anhängerschaft hoch. Seitdem die PKK wieder den Finger am Abzug hat, ist die Magie weg, die Menschen bewegte, in ihm den Friedensbringer im Kurdenkonflikt zu sehen.

Mehr als die Hälfte der Türken glauben, die AKP steuere in die falsche Richtung

Auch die AKP kämpft um jede Stimme. Und wie. Als Kuppler ist ihr Parteichef und Regierungschef Ahmet Davutoğlu in der Provinz aufgetreten. Wer keine Frau abbekomme, könne sich vertrauensvoll an die AKP wenden. In der Flüchtlingskrise presst Erdoğan mit zwei Millionen syrischen Flüchtlingen in seinem Land den Europäern Aufmerksamkeit ab.

Die AKP hatte einmal mehr zu bieten: Orientierung. Heute glaubt eine Mehrheit der Türken, 55 Prozent, das ihr Land in die falsche Richtung steuert. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des German Marshall Fund, die im Oktober auf den Markt kam. Fast 70 Prozent der Befragten gaben an, dass ihnen die Probleme des Landes zusetzten.

Die Boom-Jahre sind vorbei. Die Nachbarländer rutschen immer tiefer ins Chaos, die innenpolitische Unsicherheit verschärft die Lage. Die türkische Lira ist schwach. Ausländische Investoren ziehen ihre Milliarden aus der Türkei ab. Die Regierung musste ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum von vier auf drei Prozent nach unten korrigieren. Gewohnt waren die Türken fast fünf Prozent - im Schnitt.

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Ein bisschen Täuschung, ein bisschen Träumerei

Die Regierung versucht, mit einem Unterhaltungsprogramm gegenzusteuern: Technikminister Fikri Işik präsentierte neulich den Prototyp für das "türkische Auto" - ein im Land entwickelter und gebauter Wagen. Ein Projekt fürs Ego - das Know-how soll weitgehend eingekauft werden. Ein bisschen Täuschung, ein bisschen Träumerei, auch hier: Die Zahl der Arbeitslosen bleibt nur deshalb einigermaßen stabil bei zehn Prozent, weil vor der Wahl an der Zählweise geschraubt wurde.

Erdoğan selbst hat für die Türken an Zugkraft verloren. Seine Beliebtheitswerte sinken. Vor den Protesten um den Istanbuler Gezi-Park im Jahr 2013 erreichte Erdoğan noch Zustimmungswerte von 62 Prozent. Dann aber lehnten sich Hunderttausende erstmals offen gegen Erdoğan auf. Bei der Wahl zum Staatspräsidenten im Jahr 2014 kam er auf 52 Prozent. Vor der Wahl im Juni sah ihn das Umfrageinstitut PEW bei nur noch 39 Prozent.

Erdoğans Partei AKP könnte sich spalten

Die Hürriyet Daily News veröffentlichte eine Studie, wonach knapp 70 Prozent angaben, sich vor Erdoğan zu fürchten. Als Staatspräsident steht Erdoğan bei dieser Abstimmung nicht zur Wahl. Trotzdem geht es um ihn. Eine dritte Wahlrunde, wenn die AKP mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder nicht die absolute Mehrheit erreicht, erscheint der Bevölkerung nicht vermittelbar. Die türkischen Medien spekulieren darüber, dass sich innerhalb der AKP eine Gruppe von Erdoğan-Gegnern abspalten und einer Koalitionsregierung zur Mehrheit verhelfen könnte, wenn Erdoğan sich dieses Mal erneut sperrt.

Ex-Staatspräsident Abdullah Gül wird immer wieder als möglicher Anführer einer solchen Gruppe gehandelt. Erdoğan hat so viele einst mächtige Männer aus der AKP weggedrängt, dass eine Abspaltung alles andere als ein unrealistisches Szenario ist. Die Oppositionsparteien werden der AKP nicht wie noch im Juni reihenweise die kalte Schulter zeigen können.

Außer der säkularen CHP wollten weder die HDP noch die Ultranationalisten mit der AKP zusammengehen. Damit haben sie aus Sicht der Wähler dazu beigetragen, dass sich das Land in dieser schwierigen Lage befindet. Der Preis, den die AKP in einer Koalition wird zahlen müssen, dürfte in jedem Fall hoch sein. Die türkische Politik wird immer noch von Rachegefühlen angetrieben. Erdoğan macht das gerade vor.

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