Wahlen in der Türkei:Erdoğan bietet seinen Wählern Identität

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Recep Tayyip Erdoğan, Staatspräsident der Türkei und Parteichef der AKP. (Foto: dpa)

Recep Tayyip Erdoğan hat gewonnen, weil er auf die Themen Zugehörigkeit und Identität gesetzt hat. Und doch hat die Abstimmung gezeigt, wie viele Menschen eine andere Türkei wünschen.

Kommentar von Luisa Seeling

Sie reihen sich in Autokorsos ein, hupen, schwenken Fahnen - als hätte die Türkei bei der Fußballweltmeisterschaft gewonnen, bei der sie gerade gar nicht mitspielt. Tatsächlich waren die begeistert lärmenden Deutsch-Türken Erdoğan-Fans - der allerdings hat gewonnen, besonders deutlich in Deutschland. Zwei Drittel der türkischen Wähler hierzulande haben sich eine Fortsetzung der Ära Erdoğan gewünscht. Warum bloß?

Wer an einem Autokorso teilnimmt, hat zumindest schon mal ein vorzeigbares Auto. Wirtschaftliche Unzufriedenheit war es also eher nicht, die jene Deutsch-Türken am Sonntagabend auf die Straße trieb. Es ging um Identität, um die Demonstration der Zugehörigkeit. Und darum ging es auch vielen Wählern in der Türkei. Sie haben mit knapper Mehrheit einem Mann ihre Stimme gegeben, der das Land ökonomisch schon länger nicht mehr voranbringt. Ja, die Wirtschaft wächst. Doch das Land kämpft mit hoher Arbeitslosigkeit, wachsenden Schulden und Inflation; außerdem mit Terror, einem schwelenden Bürgerkrieg im Südosten und einem zerfallenen Nachbarstaat, in dem die Türkei zur Kriegspartei geworden ist.

Die Motive, für Erdoğan zu stimmen, waren älter als seine Partei

Es gäbe also gute Gründe, den Mann abzuwählen, der seit 15 Jahren an der Spitze dieses Landes steht und der oft lustlos und müde wirkte im Wahlkampf, anders als seine Herausforderer, die kraftvoll und optimistisch auftraten. Und doch konnte Erdoğan wieder auf die Loyalität seiner Anhänger bauen. Es gaben eben nicht so sehr pragmatische Interessen den Ausschlag; es ging um kulturelle Zugehörigkeiten, um Identität, um jenes Gespenst also, das umgeht in ganz Europa.

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Für die AKP und vor allem für Erdoğan - sein Ergebnis ist ja deutlich besser als das seiner Partei - haben sich viele Menschen aus Motiven entschieden, die älter sind als die AKP. Es sind weit zurückgehende gesellschaftliche Prägungen, die dazu geführt haben, dass eine national-konservative und religiöse Mehrheit in der Gesellschaft ihr Kreuzchen wieder bei Erdoğan gemacht hat. Historische Demütigungen spielen eine Rolle, allen voran die der Frommen durch die säkularen Eliten, die jahrzehntelang den Ton angaben.

Erdoğans Nimbus als Mann aus dem Volk, der sich vom Sesamkringelverkäufer zum Staatenlenker hoch gekämpft hat, mag angekratzt sein, wirkt aber immer noch. Und so sehr die AKP lange von einer guten wirtschaftlichen Entwicklung profitiert hat - zuletzt haben ihr Polarisierung und Spaltung mindestens ebenso sehr genützt. Die erhoffte kulturelle Selbstbehauptung war für viele Wähler offenbar wichtiger als der steigende Zwiebelpreis.

In Deutschland kommt noch hinzu, dass die hier lebenden Türken zuletzt geradezu umzingelt waren von Identitätsdebatten: Gehört der Islam zu Deutschland? Sollte man den Türken ihren Doppelpass wegnehmen, wenn sie AKP wählen? Inmitten dieser aufgeheizten Debatten entscheiden sich viele für den Trotz: Ihr sagt, wir gehören nicht dazu? Dann wählen wir, den ihr am meisten verachtet.

Es gratuliert das Who is who der Autokraten

Trotzig wäre es allerdings auch, die Türkei nun abzuschreiben. Denn diese Wahlen haben auch gezeigt, dass es im Land eine lebendige Opposition von Belang gibt. Sie hat einen erstaunlichen Wahlkampf hingelegt, unter widrigsten Bedingungen. Dabei ist es ihr wenigstens hie und da gelungen, die Übermacht der AKP zu knacken. Muharrem İnce, Erdoğans wichtigster Herausforderer, hat ein achtbares Ergebnis eingefahren, auch wenn es letztlich nicht gereicht hat. Die Opposition verweist nun auf den unfairen Wahlkampf, und es stimmt: Allein schon die mediale Übermacht der AKP war enorm. Andererseits wussten die Wähler genau, worum es geht: um weitere Erdoğan-Jahre oder den Wechsel. Es gab einfach zu viele Menschen, die Erdoğan die Treue halten, weil sie in ihm einen der Ihren sehen.

Mit der Einführung des Präsidialsystems wird er mächtiger sein denn je. Einst wollte Erdoğan das Land in die EU führen. Nun liest sich die Liste der ersten Gratulanten wie das Who is who der Autokraten: Ungarns Orbán, Russlands Putin, der iranische Präsident. Die Türkei reiht sich da ein - und doch wieder nicht. Sie ist autoritärer als die Staaten Europas, auch wenn Ungarn und Polen gerade einiges tun, um aufzuschließen. Doch von außerhalb Europas sieht die Sache anders aus; in Ägypten oder Russland zum Beispiel waren die Präsidentschaftswahlen reine Show. Niemand erwartet dort mit Spannung den Wahlabend - in der Türkei aber schon.

Die Türkei war immer schon ein System mit demokratischen und autoritären Elementen; das Pendel schlug mal in die eine, mal in die andere Richtung aus. Unter der Führung Erdoğans wird sich die Entwicklung hin zum Autokratischen fortsetzen. Doch diese Wahl hat gezeigt: Das Land verfügt über erstaunliche demokratische Beharrungskräfte. Mitten im Ausnahmezustand hat eine große Zahl von Menschen gezeigt, dass sie eine andere Türkei wünschen. Der Weg für die nächsten Jahre scheint vorgezeichnet. Doch unumkehrbar ist er nicht.

© SZ vom 26.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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