Urteil zur Sicherungsverwahrung:Die Unkultur des Wegschließens

Das Urteil aus Straßburg macht deutlich: Das Wegsperren als Placebo der deutschen Sicherheitspolitik hat ausgedient. Stattdessen muss endlich die Therapie in den Vordergrund rücken.

W. Janisch

Es war ein Urteil mit Ansage: Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die deutschen Regeln zur Sicherungsverwahrung erneut beanstandet hat, kam nun wirklich nicht überraschend. Denn die Entscheidung liegt auf der Linie des ersten Urteils vom Dezember 2009, und es hat endgültig die Illusion deutscher Justizpolitiker zerstört, man könne - nachdem ein Straftäter seine im Urteil angeordnete Haftzeit abgesessen hat - unbegrenzt weitere Gefängnisjahre dranhängen. Freiheit gehört zu den höchsten Gütern unserer Rechtsordnung: Dieser Satz gilt eben auch für Schwerkriminelle.

Lange galt in Deutschland die Annahme, man könne verurteilte Straftäter länger und länger wegsperren. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrehte hat dieses Missverständnis endgültig geradegerückt. (Foto: dapd)

Die Konsequenz des Straßburger Urteils kann freilich niemanden fröhlich stimmen. Weitere gefährliche Verbrecher müssen auf freien Fuß gesetzt werden, auch wenn sich die deutschen Gerichte vermutlich wieder dagegen sträuben werden. Das belastet die zur Überwachung berufene Polizei, und es ängstigt die Menschen: Dass es statistisch wahrscheinlicher ist, mit dem Auto zu verunglücken als Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, ändert an der subjektiven Befindlichkeit wenig.

Nur liegt die Verantwortung dafür nicht bei den europäischen Richtern, sondern bei der deutschen Politik. Über Jahre hinweg wurden die Regeln der Sicherungsverwahrung zu einem heimlichen "Lebenslänglich" ausgebaut. Damit hat sich eine Unkultur des "Wegschließens" breitgemacht - die freilich nie mehr war als das Placebo der Sicherheitspolitik. Denn die Sorge um die Sicherheit der Bürger muss bei der Therapie der Häftlinge beginnen und darf mit deren Entlassung nicht enden. Wegsperren als Standardlösung ist eines Rechtsstaats unwürdig.

© SZ vom 14.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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