Ukraine und die Nato:Abschrecken und trotzdem reden

Die Debatte über einen Beitritt Kiews zur Nato ist rein abstrakt. Natürlich kann die Ukraine sich bewerben, das ist ihr gutes Recht. Aber sie wird nicht aufgenommen werden - und das ist richtig so.

Kommentar von Stefan Kornelius

Zunächst ist Sicherheit eine Frage der Wahrnehmung. Alles andere ist dann die Ableitung. Wahrnehmung ist in der Regel eine subjektive Angelegenheit, in Fragen von Krieg oder Frieden aber durchaus auch messbar. Wer nachts einem grimmigen Typen mit Baseballschläger auf der Straße begegnet, darf sich mehr in seiner Sicherheit bedroht fühlen, als wenn er einer Kindergruppe entgegentritt.

Zwischen Russland und dem Westen spielt sich ein ähnliches Wahrnehmungsduell ab. Präsident Wladimir Putin argumentiert stets, er fühle sich von der Nato eingekreist und durch die Stationierung von Abfangjägern im Baltikum in seinen Sicherheitsinteressen verletzt. Diese Sicht muss man nicht teilen, aber akzeptieren. Welche Ableitung Putin daraus trifft und ob man deswegen etwa die Krim annektieren darf, ist eine andere Frage.

Kiew wird nicht der Nato beitreten - und sollte es auch nicht

Die Nato hingegen sieht in den großen russischen Truppenmanövern, in Raketenübungen, der Entsendung von Flottenverbänden und Bombern bis weit über den Atlantik eine Bedrohung. Die Annexion der Krim und die Waffenlieferungen in die Ostukraine verstärken das Gefühl der Destabilisierung. Offenbar ist die russische Armee auch die einzige Streitmacht der Welt, deren Soldaten die Panzer mit in den Urlaub nehmen dürfen. Welche Ableitung die Nato aus dieser Bedrohungsanalyse zieht, ist freilich ebenfalls eine ganz andere Sache.

Seit Beginn der Ukraine-Krise ringen zwei Fraktionen im Bündnis um die Antwort: Die defensive Fraktion sieht in jeder Veränderung der Nato-Politik eine potenzielle Provokation für Russland und möchte deswegen so passiv wie möglich reagieren. Die offensiven Abschrecker wollen die Verteidigungsbereitschaft der Nato demonstrieren und zur politischen Abwehr auch noch der Ukraine weitgehende Aussichten auf Mitgliedschaft versprechen, weil nur die Mitgliedschaft echte Sicherheit vor Russland verspreche.

Beide Fraktionen handeln unklug. Besonders unklug agiert zur Zeit die Erweiterungsfraktion, die in der Vergrößerung der Allianz einen Sicherheitsgewinn vermutet. Denn erstens ist der Erweiterungswunsch nicht zu erfüllen, und zweitens wäre das Sicherheitsversprechen der Allianz hohl.

Wer hinzukommt, muss die Sicherheit des Bündnisses erhöhen

Die Nato ist ein Militärbündnis, in das neue Mitglieder immer hineinstrebten. Wer schon drin war im Verein, hat sich hingegen abwartend verhalten. Dafür gibt es einen bestechenden Grund: Vor die Mitgliedschaft hat die Nato eine Hürde gesetzt - die Einstimmigkeit der Mitglieder. Wer heute also der Ukraine eine Mitgliedschaft in Aussicht stellt, sollte vorher die Stimmen zählen. Es wird nicht reichen.

Auch für diese Zurückhaltung gibt es einen bestechenden Grund. Die Nato hat sich stets nach einem Grundsatz erweitert: Wer hinzukommt, muss die Sicherheit des Bündnisses erhöhen. Er darf nicht das Risiko vergrößern. Ein Land mit einem heißen Konflikt in seinen Staatsgrenzen trüge jedoch einen Krieg ins Bündnis - das kann die Nato nicht wollen.

Selbstverständlich hat der Nato-Generalsekretär recht: Jeder souveräne Staat kann sich um die Aufnahme bemühen. Aber auch hier gelten die Gesetze der Wahrnehmung. Wenn Jens Stoltenberg ein abstraktes Recht betont, hört sich das in Kiew an wie ein Heilsversprechen. Die ehrliche Ansage an den ukrainischen Präsidenten und dessen Unterstützer in der Nato müsste lauten: Ihr dürft euch zwar um die Aufnahme bewerben, aber ihr dürft nicht mit Einstimmigkeit rechnen. Die Bewerbung würde also nur einen schweren politischen Konflikt in der Nato auslösen, den das Bündnis nun wahrlich nicht gebrauchen kann. Im Umgang mit Russland gibt es eine klügere Strategie - und die wurde auch schon erfolgreich ausprobiert: abschrecken und trotzdem reden.

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