Konflikt:Der Waffenstillstand in der Ukraine ist eine Farce

Lesezeit: 4 min

In der Ostukraine sterben viele Unbeteiligte: Nordöstlich von Donezk beerdigen Angehörige Kinder im Alter von elf, fünf und eineinhalb Jahren, die zu Hause mit einem Blindgänger hantiert hatten. (Foto: Alexander Ermochenko/dpa)
  • Zwischen der Ukraine und den von Russland unterstützten Separatisten wird wieder täglich gekämpft.
  • Die Zahl der zivilen Opfer war im Juli so hoch wie zuletzt vor einem Jahr.
  • Der Westen beobachtet den wiederaufflammenden Konflikt mit Sorge.
  • Die Ukraine kämpft derweil mit den Auswirkungen der Auseinandersetzung: Mehr als zwei Millionen Menschen sind wegen des Konflikts geflüchtet, die Wirtschaftsleistung ist geschrumpft.

Von Cathrin Kahlweit

Jura liegt mit schweren Verletzungen in Lemberg im Krankenhaus. Er war vom Kriegseinsatz im Osten in die Westukraine gefahren, um sich zu erholen von Gefahr, Angst und Gewalt, die sich an der Front abwechselten mit Saufgelagen und Langeweile. Jura ist Offizier der ukrainischen Armee, er ist Mitte 40, nicht sehr fit, kein glühender Patriot.

Aber er hatte einst auf Kiews Maidan für Rechtsstaatlichkeit gekämpft, gegen Moskaus Einfluss und für den Weg nach Europa; deshalb meldete er sich freiwillig und schob mehr als ein Jahr lang Dienst im Donbass - dort, wo die Frontlinie zwischen dem von der Regierung kontrollierten Gebiet und der "Volksrepublik Luhansk" quer durch einen Fluss verläuft. Seine Verletzung hat sich Jura, absurd genug, daheim in Lemberg zugezogen; er ist, in Uniform, nachts von Unbekannten blutig geschlagen worden. Gut möglich, dass er Glück im Unglück hatte, denn an die Front kann er vorerst nicht zurück. Dort wird nicht nur geblutet, sondern wieder öfter gestorben.

Der Westen ist besorgt über die dramatische Eskalation

Lange Zeit war es an der etwa 500 Kilometer langen Front vergleichsweise ruhig gewesen; der Krieg zwischen der Ukraine und den von Russland unterstützten Separatisten schien auf kleiner Flamme zu köcheln - das passte, um beiden Seiten als politisches Druckmittel zu dienen und doch nicht den Anschein zu erwecken, dass der Konflikt bald beendet wäre. Mittlerweile aber wird täglich gekämpft, allen Waffenstillstandsvereinbarungen zum Trotz. Im Juli hat die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) jede Woche etwa 400 Beschüsse von Stellungen beider Seiten vermerkt. Das ist eine dramatische Eskalation, die im Westen mit Sorge beobachtet wird.

Google
:Eine Krim, zwei Karten

Der Konzern tauscht auf einer Karte der Krim die Namen Dutzender Orte aus, kurze Zeit später macht er alles wieder rückgängig. Google will Ärger mit Russland vermeiden.

Von Frank Nienhuysen

Auch die Zahl ziviler Opfer nimmt wieder zu. Sie sei im Juli so hoch gewesen wie zuletzt vor einem Jahr, sagt der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Seid Raad al-Hussein, 73 Menschen seien durch Minen, Sprengfallen und Beschuss zu Schaden gekommen. Seit Beginn des Konflikts im Frühjahr 2014 sind schon fast 10 000 Tote zu beklagen, wobei unklar ist, ob es auf der Seite der Separatisten, die zwei Republiken gegründet haben, nicht noch mehr sind; sie geben keine Zahlen heraus.

Neben Mitarbeitern des Roten Kreuzes sind es oft nur noch die Beobachter der OSZE, die sich mit Genehmigung der separatistischen Regime in Donezk und Luhansk in den östlichen Gebieten bewegen dürfen. Aber auch ihre Arbeit wird gefährlicher: Drohungen, Gefangennahmen, Zerstörung von Gerät, all das sei ein Dauerproblem, das zuletzt in organisierte Proteste mündete, sagt Missionschef Alexander Hug. Die Donezker Führung schicke Zivilisten vor, um die Beobachter zu stoppen. Jüngst wurden OSZE-Mitarbeiter von Soldaten mit Waffen bedroht.

Human Rights Watch beklagt "eklatante Menschenrechtsverletzungen"

Zwar ist die Zahl der Regelverstöße durch prorussische Milizen weit höher, doch auch die ukrainischen Soldaten sind nicht immer kooperativ. "Die Verantwortlichen müssen jene, die Beobachter behindern oder beschießen, zur Verantwortung ziehen", sagt Hug. Untätigkeit auf beiden Seiten führe dazu, dass die Übergriffe zunähmen. Das gilt auch in größerem Rahmen: Erst kürzlich kritisierte Human Rights Watch, beide Kriegsparteien begingen eklatante Menschenrechtsverletzungen, entführten Zivilisten und misshandelten Soldaten.

Das ist also die Lage in diesem vergessenen Krieg, der im Schatten großer Weltkrisen seit zwei Jahren die Ukraine zerreißt. Zwar tagen alle zwei Wochen Arbeitsgruppen, die auf der Basis eines Verhandlungsprotokolls vom Februar 2015 nach Annäherungen suchen; zuletzt war es um Gefangenenaustausch und Feuerpausen gegangen, damit Infrastruktur wie Wasser- und Stromleitungen oder Bahnschienen repariert werden können. Aber selbst hier herrscht im wesentlichen Sprachlosigkeit.

Was nach Transnistrien, Nagornij-Karabach, Abchasien und Ossetien lange wie der nächste "frozen conflict", wie ein weiterer eingefrorener Konflikt im Einflussbereich Moskaus aussah, hat sich über den Sommer wieder zu einem heißen Krieg entwickelt. Moskau bestreitet bis heute, dass es auf Seiten der Separatisten kämpft und bezeichnet die Kämpfe als "Bürgerkrieg" infolge des Maidan-Aufstandes vom Winter 2013/14 und der Westorientierung des Landes, was in Kiew empört zurückgewiesen wird. Denn der Kreml unterstützt den Krieg nachweislich mit Material und Personal, die über die offene Ostgrenze in die Separatistengebiete einsickern.

Beide "Volksrepubliken" haben sich weiter abgeschottet

Schon vor Monaten wurden zudem die lokalen Anführer gegen geschulte Führungskräfte ausgetauscht, die entweder aus Russland stammen oder dort ausgebildet wurden. Seither haben sich beide "Volksrepubliken" weiter abgeschottet: Medien, Geld und Gesetze sind an Russland angepasst, Universitätsprüfungen werden in Russland abgelegt, Gehälter aus Russland finanziert.

Russland
:Mit Desinteresse gestraft

Viele Russen leiden unter den Folgen des Ukraine-Konflikts. Dennoch stehen die meisten hinter ihrer Regierung. Das hat auch mit den Medien zu tun.

Von Frank Nienhuysen

Die Ukraine zahlt derweil einen hohen Preis für den Konflikt. Er hat mehr als zwei Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht, eine wichtige Industrieregion weitgehend zerstört und frisst Geld für Militärausgaben, das Kiew nicht hat. In den vergangenen zwei Jahren ist die Wirtschaftsleistung um sieben und um zehn Prozent geschrumpft, Investitionen und Konsum gingen wegen der Krise massiv zurück. Nach Angaben der Deutschen Beratergruppe Ukraine deutet sich allerdings für 2017 eine Stabilisierung an. Die Inflationsrate, die vor einem Jahr noch bei rasanten 50 Prozent lag, ist auf 15 Prozent gesunken.

In Kiew wertet man das als Indiz dafür, dass sich die politische Lage trotz des Krieges stabilisiert. Genau das, sagt ein Berater des ukrainischen Außenministers, könne nun der Grund dafür sein, dass der Krieg im Donbass wieder eskaliert. Moskau könne und wolle es nicht dulden, dass das Land zur Ruhe komme. Jede schlechte Nachricht über Tote, Verletzte, Folter, Hunger und Leid führe zu Unsicherheit und Depression, halte die Ukraine mit Negativschlagzeilen im Gespräch.

Derweil präsentiert die Webseite der "Volksrepublik Donezk" den "legendären Kämpfer" Gennadij, der schon seit Beginn des Krieges seinen Heldenmut bewiesen habe, in einem Interview. Was ihn mit Jura aus Lemberg verbindet? Gennadij träumt sehnsüchtig davon, was er nach den Krieg machen wird, wo er arbeiten wird. Blütenträume, vorerst.

© SZ vom 05.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Ukraine
:Der Feind im Haus

Offiziell verhandelt die ukrainische Regierung in Minsk über eine Friedenslösung für die Ostukraine. Aber in Kiew mehren sich die Stimmen derer, die das als Verrat betrachten.

Von Cathrin Kahlweit

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: