Türkei:Türkisches Parlament weitet Machtbefugnisse von Erdoğan aus

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Bild mit Symbolik: Abgeordnete in Ankara geben ihre Stimme zur geplanten Verfassungsreform ab, die die Türkei grundlegend verändern könnte. (Foto: AFP)
  • Das türkische Parlament hat den Weg frei gemacht für eine von Präsident Erdoğan angestrebte Verfassungsreform.
  • Mit dieser würde die Türkei zum Präsidialsystem übergehen, Erdoğan bekäme noch mehr Machtbefugnisse.
  • Die endgültige Entscheidung darüber fällt nun in einer Volksabstimmung, die für das Frühjahr angesetzt ist.
  • Umfragen zeichnen ein uneinheitliches Bild, ob die Reform eine Mehrheit hätte.
  • Oppositionspolitiker fürchten schon jetzt eine "Diktatur", sollte das Referendum erfolgreich sein.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Bis tief in die Nacht hinein gingen die Abstimmungen in der Nationalversammlung. Zuletzt waren sieben Artikel der von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan angestrebten Verfassungsreform verblieben, über die die Parlamentarier einzeln abstimmen mussten. Gegen halb fünf am Samstagmorgen war es dann soweit: Die Abgeordneten in Ankara segneten mit der nötigen Dreifünftelmehrheit das Gesamtpaket aus 18 Artikeln ab. Sie votierten damit für ein Präsidialsystem in der Türkei, für mehr Machtbefügnisse für Erdoğan.

Die AKP-Regierung brauchte im Parlament mindestens 330 der 550 Stimmen, um ihre Pläne für eine neue Verfassung der Bevölkerung zur Abstimmung vorlegen zu können. Ihr fehlten jedoch mindestens 14 Stimmen, weshalb Regierungschef Binali Yıldırım ein Bündnis mit der ultranationalistischen Partei MHP eingegangen war. In einer ersten Abstimmungsrunde erwies sich die Allianz als stabil. Für die Artikel stimmten in der Regel mindestens 340 Parlamentarier. Und auch bei der finalen Abstimmung in der Nacht zu Samstag kam das Bündnis in zweiter Lesung auf 339 Stimmen - neun mehr als benötigt.

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Wie aus der AKP verlautete, könnte das Volk nun bereits Anfang April befragt werden. Zunächst muss die Vorlage aber im Amtsanzeiger veröffentlicht werden. Danach folgt am ersten Sonntag nach Ablauf von 60 Tagen ein Referendum. Umfragen zeichnen ein uneinheitliches Bild, ob die Reform eine Mehrheit hätte.

Erdoğan wäre nicht mehr nur Staats-, sondern auch Regierungschef

Einem Bericht der Hürriyet Daily News zufolge plant die Regierungspartei, den Wahlkampf fürs Referendum in Abstimmung mit der MHP zu führen. Der Übergang zum Präsidialsystem könne mit der Bildung eines islamisch-nationalistischen Blocks einhergehen. Yıldırım hat bereits explizit betont, dass auch MHP-Politiker der künftigen Regierung dem Präsidialsystem angehören könnten.

Der Systemwechsel würde die Politik im Land grundlegend verändern. Die Reform soll 2019 in Kraft treten und dem Präsidenten deutlich mehr Macht verleihen. Sie würde zugleich eine Schwächung des Parlaments mit sich bringen. Erdoğan wäre dann nicht mehr nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Er könnte weitgehend per Dekret regieren. Anders als jetzt soll er wieder seiner Partei angehören dürfen. Seine Macht reicht weit in die Justiz hinein. Bei der Besetzung einflussreicher Richtergremien entscheidet er direkt mit.

Die größte Oppositionspartei CHP und die prokurdische HDP sind gegen das Präsidialsystem und warnen vor einer "Diktatur". Der CHP-Abgeordnete und frühere Parteichef Deniz Baykal erklärte: "Vor uns steht ein Entwurf, der unsere hundert Jahre alte politische Kultur, die sich auf Souveränität der Nation und Dominanz des Parlaments stützt, einstürzen lässt."

Tumulte bei den Abstimmungen im Parlament

In der Nacht zu Freitag war es bei den Debatten im Parlament erneut zu Tumulten gekommen. Die Abgeordnete Aylin Nazlıaka, ehemals CHP und heute unabhängig, hatte sich mit Handschellen ans Rednerpult gefesselt. Sie wollte dies als Symbol dafür verstanden wissen, wie sich das Parlament selbst Fesseln anlege; an die MHP appellierte sie, der Reform nicht zuzustimmen. Daraufhin kam es zu Handgreiflichkeiten, an denen Parlamentarierinnen der Regierungsfraktion und der Opposition beteiligt waren. Die behinderte Politikerin Şafak Pavey von der CHP habe in dem Streit ihre Arm-Prothese verloren. Eine Abgeordnete der prokurdischen HDP, Pervin Buldan, kam nach einem Schlag gegen die Brust mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus.

© SZ vom 21.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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