Mit einer Mischung aus Zorn und Hilflosigkeit musste man zuschauen, wie in der Türkei nach dem Putschversuch vom Juli 2016 massenhaft Menschen verhaftet wurden. Darunter waren einige türkische Journalisten - die Freilassung von Deniz Yücel hat an ihrer Situation erst einmal wenig geändert. Jeder, dem an der Zukunft des Rechtsstaats (und an der Zukunft der Türkei) gelegen war, wünschte sich ein klares Verdikt herbei, das Willkür als Willkür brandmarkt. An diesem Dienstag könnte es so weit sein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilt über die Klagen zweier Journalisten.
Es geht dabei um Mehmet Hasan Altan, Wirtschaftswissenschaftler und Journalist - er war im September nach dem Putsch wegen angeblicher Beteiligung an einem Umsturzversuch verhaftet worden und wurde inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilt. Der zweite Kläger ist Şahin Alpay, der unter anderem für die Zeitung Zaman schrieb, die von der türkischen Regierung als Sprachrohr der Gülen-Bewegung gesehen und deshalb verboten wurde.
Hinter den Kulissen arbeitet das Menschenrechtsgericht längst mit Hochdruck an diesen Fällen. Die Klagen von Journalisten werden mit Priorität behandelt - nie herrschte ein Zweifel daran, dass dem Gericht hier eine zentrale Rolle zukommt. Zugleich aber zeigte man sich peinlichst bemüht, alle Verfahrensregeln überkorrekt einzuhalten, um jeden Eindruck von Voreingenommenheit zu zerstreuen. Die Türkei verlangte längere Fristen für ihre Schriftsätze? Kein Problem, der Wunsch wurde erfüllt.
Deutsch-türkische Beziehungen:Wie Ankara Yücels Freilassung nutzen will
Der freigelassene Journalist Deniz Yücel wollte auf keinen Fall Teil eines "schmutzigen Deals" werden. Doch kaum ist er aus dem Gefängnis entlassen, wünscht sich der türkische Regierungschef deutsche Hilfe beim Panzerbau - und setzt so die Bundesregierung unter Druck.
Überhaupt gleicht die Arbeit des Straßburger Gerichtshofs - der zum Staatenbündnis Europarat gehört, nicht zur EU - oft einer Mischung aus Rechtsprechung und Diplomatie. So reiste Mitte Februar Thorbjørn Jagland, Generalsekretär des Europarats, nach Ankara, um eine Botschaft zu überbringen: Das türkische Verfassungsgericht müsse frei und ohne Beeinflussung arbeiten können. Das sei nur dann der Fall, wenn seine Entscheidungen umgesetzt würden. Das war eine nicht sonderlich subtile Anspielung darauf, dass eben jenes Verfassungsgericht im Januar die Freilassung von Altan und Alpay angeordnet hatte - aber von einer unteren Instanz schlicht ignoriert wurde.
Ein Verfassungsgericht, das missachtet wird? Wäre das dann noch ein "wirksamen Rechtsmittel", das nun mal Voraussetzung für das geduldige Warten des Menschenrechtsgerichts auf das Ende innerstaatlicher Prozeduren ist? Jaglands Botschaft enthielt also eine Drohung: Wenn sich auch die letzten Spurenelemente von Rechtsschutz verflüchtigt haben, dann kann das Menschenrechtsgericht auch gleich selbst entscheiden.
Vergangene Woche wurde Alpay, 73 Jahre alt, dann doch aus dem Gefängnis entlassen, er steht nun unter Hausarrest. Kehrt die Türkei irgendwann zurück zur Achtung der Menschenrechtskonvention, zu deren Erstunterzeichnern sie 1950 gehörte? Oder wird hier wieder nur eine Fassade rechtsstaatlich angestrichen, damit man die Willkür dahinter nicht sieht? An der türkischen Reaktion wird man erkennen können, wie ernst es der Regierung ist: Sollte sie an diesem Dienstag verurteilt werden, dann müsste auch Mehmet Hasan Altan ein neues, ein faires Verfahren bekommen.