SPD-Chef Gabriel:"Das größte Risiko für uns ist, nichts zu ändern"

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Pop-Beauftragter, Umweltminister, SPD-Chef: Sigmar Gabriel über Korrekturen der Hartz-Reformen, die Kanzlerkandidatenkür und die Patientin SPD.

N. Fried, S. Höll

Der Herr Vorsitzende lässt warten. Sigmar Gabriel hat noch einige seiner Stellvertreter zu Gast: Klaus Wowereit verlässt als Erster das Chefzimmer im Willy-Brandt-Haus, am längsten aber konferiert Gabriel mit Hannelore Kraft, der sozialdemokratischen Spitzenkandidatin in Nordrhein-Westfalen. 45 Minuten später als verabredet beginnt dann das Interview, dafür nimmt sich Gabriel aber auch fast eineinhalb Stunden Zeit. Im Büro des Vorsitzenden in der Spitze der wie ein Schiffsbug geformten SPD-Zentrale hat sich kaum etwas geändert, Gabriel hat auch beim Mobiliar das Erbe seiner Vorgänger übernommen. Viele Parteichefs haben sich hier in den vergangenen Jahren die Klinke in die Hand gegeben, vor Gabriel waren es zuletzt Matthias Platzeck, Kurt Beck und Franz Müntefering. Seit dem 13. November ist Gabriel, 50, SPD-Chef. Auf dem Parteitag in Dresden erhielt er nach einer kämpferischen Rede überraschend hohe 94,2 Prozent. Gabriel hat ein wenig Urlaub gehabt und eine Erkältung auskuriert. Seine Stimmung ist moderat positiv.

Sigmar Gabriel: "Die Bundesregierung muss endlich erklären, welche Strategie sie in Afghanistan verfolgt." (Foto: Foto: dpa)

SZ: Herr Gabriel, nach der Bundestagswahl am 27. September fiel die SPD in ein politisches Koma. Wie geht es der Patientin inzwischen?

Sigmar Gabriel: Die SPD hat eine herbe Wahlniederlage erlitten, ist aber nicht in Depression gefallen - und ins Koma schon gar nicht. Da liegt wohl derzeit eher die schwarz-gelbe Rechts-Koalition.

SZ: In welchem Punkt haben Sie die SPD bislang am stärksten bewegt?

Gabriel: Wir werden Ende der Woche auf unserer Klausur ein Arbeitsprogramm beschließen, das mehr Mitgliederbeteiligung und eine Öffnung der Partei vorsieht. Und politisch ist es neben der evangelischen Kirche die SPD, die den Afghanistan-Einsatz offen diskutiert. Auch dazu hat die Bundesregierung keine gemeinsame Haltung.

SZ: Worin unterscheidet sich die SPD von der Koalition? Außenminister Guido Westerwelle will keine weiteren deutschen Kampftruppen entsenden, spricht von einem Abzug der Bundeswehr in nicht allzu ferner Zukunft. Verteidigungsminister zu Guttenberg sagt, er habe keine 2500 zusätzlichen Soldaten.

Gabriel: Ich kann gar nicht erkennen, dass die Bundesregierung eine Afghanistan-Strategie hat. Zur Afghanistan-Frage, einem außenpolitischen Thema, äußert sich seit Wochen nur der Verteidigungsminister. In der CDU/CSU reden einige neuerdings gern von "Krieg" und fordern "robustere Einsätze der Bundeswehr". Vom Außenminister oder der Bundeskanzlerin hört man wenig bis gar nichts.

Eine militärische Hoheit über die Außenpolitik darf es in Deutschland aber nicht geben. Die Bundesregierung muss endlich der Öffentlichkeit erklären, welche Strategie sie verfolgt, wie und mit wem sie diese durchsetzen will. Für die SPD ist klar: US-Präsident Obama will 2011 die ersten US-Soldaten abziehen. Dann muss auch der Rückzug der Bundeswehr anfangen. Bis dahin müssen die afghanischen Sicherheitskräfte mehr Verantwortung übernehmen.

SZ: Die SPD lehnt also eine Entsendung von mehr Kampftruppen strikt ab und stimmt allenfalls mehr Polizei- und Militärausbildern zu?

Gabriel: Klar ist: Wir brauchen mehr Ausbilder. Aber erst muss doch geklärt werden, ob sie nicht aus dem bisherigen Kontingent der 4500 Soldaten stammen können. Wenn die Bundesregierung zusätzliche Soldaten entsenden will, muss sie das im Bundestag sehr gut begründen. Aber die Koalition ist ja überhaupt nicht bereit, über ihre Strategie reden. Also machen wir deren Arbeit und veranstalten am 22. Januar eine Afghanistan-Konferenz.

SZ: Obama will das Militär stärken, bevor 2011 ein Abzug beginnen kann. Den Truppenaufbau lehnen Sie aber ab.

Gabriel: Ich kann nicht erkennen, dass ein härteres militärisches Vorgehen, wie es in der CDU gefordert wird, mit vielen zivilen Opfern Afghanistan in den vergangenen Jahren mehr Sicherheit gebracht hätte. Im Gegenteil.

SZ: Sie wollen die Parteimitglieder zum Afghanistan-Kurs befragen. Was machen Sie, wenn Ihre Basis die Bundeswehr sofort nach Hause holen will?

Gabriel: So verantwortungslos sind Sozialdemokraten nicht. Solche Sprüche kamen zuletzt eher von Horst Seehofer. Wir werden der Parteibasis nach unserer Afghanistan-Konferenz einen Vorschlag unterbreiten. Der soll dann vor Ort diskutiert werden.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Änderungen bei Hartz IV und wie das Volk den nächsten Bundeskanzlerkandidaten bestimmen könnte.

SZ: Wollen Sie Ihre Mitglieder auch zur Reform der Hartz-Gesetze und der Rente mit 67 befragen?

Gabriel: Fünf Jahre nach der Reform der Arbeitsmarktpolitik macht es doch Sinn, eine Auswertung zu machen und zu entscheiden, was war richtig und was nicht erfolgreich. Und die Ergebnisse dieser Überprüfung werden nicht nur im Parteivorstand und in der Bundestagsfraktion beraten, sondern mit vielen anderen in und außerhalb der SPD.

SZ: Generalsekretärin Andrea Nahles sagt, die SPD-Strukturen gehörten "entkalkt". Leidet die SPD an Traditions-Sklerose?

Gabriel: Ganz sicher nicht. Deutschland ginge es besser, wenn viele der Traditionen der Sozialdemokratie, etwa das Gemeinwohl, nicht auf dem Altar der sogenannten freien Märkte geopfert worden wären. Andrea Nahles und ich möchten die Distanz überbrücken zwischen politisch interessierten Bürgern und den Parteien. Unsere Organisationsformen entstammen den 60er und 70er Jahren, einer Zeit, in der Hunderttausende Menschen der SPD beigetreten sind. Leider ist inzwischen das Gegenteil passiert. Wir möchten die vielen politisch engagierten Menschen zur Mitarbeit gewinnen, die sich häufig nicht im SPD-Ortsverein dauerhaft organisieren wollen.

SZ: Wie soll das funktionieren?

Gabriel: Parteien werden "atmende Organisationen" sein. Zu bestimmten inhaltlichen Fragen oder zu Wahlzeiten müssen sie "einatmen": Also zum Mitmachen und Mitentscheiden alle jene einladen, die an einem Projekt interessiert sind, aber nicht an einer dauerhaften Mitarbeit im klassischen Ortsverein. Frankreichs Sozialisten wollen ihren nächsten Präsidentschaftskandidaten in einer Urwahl bestimmen - unter Beteiligung auch von Nicht-Mitgliedern, die sich dafür in Sympathisanten-Listen eintragen müssen, ähnlich wie bei den Vorwahlen in den USA. Das könnte ich mir für die SPD auch vorstellen.

SZ: Den nächsten SPD-Kanzlerkandidaten bestimmt also das Volk?

Gabriel: Warum nicht? Allerdings gibt es in den USA oder in Frankreich in der Regel mehrere Bewerber, bei uns meistens nur einen. Und eine solche Abstimmung darf keine Show-Veranstaltung sein. Wir haben in meiner Heimatstadt Goslar einen SPD-Kandidaten für das Landratsamt in Wahlen bestimmt, an denen auch Nicht-Mitglieder teilnehmen konnten. Das war ein großer Erfolg. Leute müssen sich bei uns engagieren können für nur ein Thema, für ein Projekt. Da können wir als SPD beispielsweise viel von den Umweltorganisationen lernen.

SZ: Warum sollen Außenstehende, die keine Beiträge zahlen, dieselben Rechte haben wie zahlende SPD-Mitglieder? Das beschert Ihnen doch nur Austritte.

Gabriel: Um ganz ehrlich zu sein: Austritte hatten wir in der Vergangenheit zuhauf und zwar ohne dass wir uns geöffnet haben. Das größte Risiko für uns ist, nichts zu ändern. Experimentierfreude und Offenheit sind gefragt. Alles andere ist langweilig und hat mit dem Lebensalltag der meisten Menschen wenig gemein. Und viele Menschen werden der SPD beitreten, wenn sie uns einmal genauer kennengelernt haben.

SZ: Apropos Veränderungen. Wie wollen Sie die Hartz-Reformen konkret umbauen?

Gabriel: Zuerst geht es mal um eine ehrliche Bestandsaufnahme und damit um die Frage, wie wir Menschen qualifizieren und motivieren, damit sie möglichst schnell wieder Arbeit finden. Arbeit, von der sie leben können. Leute wie CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers wollen doch das Problem verschärfen. Sie lehnen gesetzliche Mindestlöhne ab und wollen Hartz-IV-Empfängern ermöglichen, ihre Einkünfte durch höhere Zuverdienste zu verbessern. Damit bauen sie die Armutslöhne aus. Für die Betroffenen wird der Verbleib in Hartz IV mit einem Zusatz-Armutsjob am Ende lukrativer als eine Vollzeitstelle, für die kein anständiger Lohn gezahlt wird.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wie Gabriel sich die Rente ab 67 vorstellt und was passiert, wenn der Staatsbürger zum Steuerzahler degradiert wird.

SZ: Wir wüssten gern, was die SPD verändern will.

Gabriel: Ich denke, dass wir das Schonvermögen für ältere Arbeitslose noch stärker schützen müssen. Warum darf jemand, der 30 Jahre lang gearbeitet hat, im Fall der Arbeitslosigkeit nicht alles behalten, was er für sein Alter angespart hat, zum Beispiel seine Lebensversicherung.

SZ: Bleiben Sie bei der Rente mit 67?

Gabriel: Wir wollen die Verlängerung der Altersteilzeit und Übergänge für die, die ihren Job nicht mehr schaffen. Es gibt viele Menschen, die können heute schon nicht bis 65 arbeiten. Für sie muss es Übergänge ohne dramatische Einbußen geben.

SZ: Wann präsentieren Sie Ihre ökologische Steuerreform?

Gabriel: Wir können nicht alles in wenigen Wochen schaffen. Aber Sie können sicher sein, dass wir, anders als die rechte Koalition, den Staat nicht verarmen lassen. Die FDP nennt den Staat einen "teuren Schwächling" und reduziert den Staatsbürger auf den Steuerzahler. Das ist eine Perversion liberalen Denkens. Die Steuersenkungs-Orgien zerstören die Grundlagen unseres Gemeinwesens. Wir brauchen inzwischen eine Bewegung gegen den Staatsbankrott, den die Koalition betreibt.

SZ: Diese Bewegung hat es doch bei der Bundestagswahl gegeben. Schwarz-Gelb hat im Wahlkampf Steuersenkungen versprochen und am 27. September gewonnen.

Gabriel: Die Union hat sich die FDP-Steuerpolitik im Wahlkampf nicht zu eigen gemacht. Die FDP führt einen Kampf der Egoisten gegen das Gemeinwohl. Diese Koalition bereitet eine Netto-Lüge vor. Sie will vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen nicht sagen, wer die Steuersenkungen finanzieren wird. Das werden diejenigen sein, die wenig Steuern zahlen, aber vergleichsweise hohe Sozialabgaben zu tragen haben. Und all jene, die eine vernünftige Infrastruktur brauchen, Kindergärten und Schulen etwa.

SZ: Mit eben dieser FDP hätte die SPD im Bund erklärtermaßen doch gerne regiert.

Gabriel: Nein. Dieses Programm hätte Westerwelle mit uns nicht durchgesetzt.

SZ: Den Sozialdemokraten gehen auch in Nordrhein-Westfalen die Koalitionspartner aus. Die Grünen liebäugeln mit der CDU, die Linkspartei verliert sich im internen Machtkampf.

Gabriel: Wir werden im Wahlkampf zeigen, dass wir die Partei sind, die einen Wandel will und durchsetzen kann. Wird die SPD stark, findet sie auch Partner. Die Linkspartei dort ist jedenfalls nicht regierungsfähig.

© SZ vom 13.01.2010/ehr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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