Singapur:"Hier geht es um echte Dollars"

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Singapurs Außenminister beobachtet das Ringen zwischen Peking und Washington mit Sorge.

Von A. Perras und S. Kornelius, Singapur

Vivian Balakrishnan war Augenspezialist, ehe er zum Außenminister Singapurs aufstieg. Das erklärt vielleicht, warum der Mann zunächst den ganzen Organismus beschreiben will, ehe er sich dem exakten Befund zuwendet. Ein Gespräch über das Südchinesische Meer und die Spannungen mit Peking? "Wollen Sie wirklich gleich mitten hinein springen?", fragt der 55-Jährige verwundert.

Deswegen zunächst also ein Blick zurück in die chinesische Geschichte, als die frühen Herrscher begannen, ihr Reich zu einen und Grenzen zu sichern. "Wenn Sie der Kaiser von Peking sind, dann begründet sich damit ihre Legitimität." Balakrishnan zeichnet das Bild einer Psyche, die sich über die Jahrhunderte entwickelt hat: "Als chinesischer Führer glauben Sie daran, dass Ihr rechtmäßiger Platz in dieser Welt ganz oben ist". Ohne diesen Blick in die chinesische Geschichte könne man gar nicht verstehen, was sich derzeit draußen auf dem Ozean abspiele, sagt der oberste Diplomat der singapurischen Regierung im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung.

Peking betrachtet das umstrittene Meeresgebiet als seinen "maritimen Süden". Das hat die Großmacht so auch aufgezeichnet, mit einigen kühnen Strichen, die als sogenannte "Nine-Dash-Line" bekannt geworden sind - eine grob gefasste Markierung, keine exakt vermessene Grenze. "Die Herausforderung für die Welt besteht darin, dass sie diese Linie aufgezeichnet haben, unpräzise, ohne GPS-Koordinaten. "Mit diesen Strichen haben sie sich buchstäblich hineingemalt in ein politisches und strategisches Problem." Nun müssten sie sehen, wie sie die Linien verteidigen.

Singapur hat keine Ansprüche in diesem komplizierten Streit, in den sich ein halbes Dutzend Staaten verhakt haben. Aber der Außenminister hat ein paar klare Erwartungen: "Wir wollen Navigationsfreiheit und das Recht auf Überflug, weil sich hier alles um Handel dreht. Handel ist unser Daseinszweck an der Nahtstelle zwischen der Straße von Malakka und dem Südchinesischen Meer." Güter in einem Wert von fünf Billionen US-Dollar werden pro Jahr über diese Route ausgetauscht.

Aber der Konflikt mit China geht tiefer, er betrifft die Staatenordnung, die Machtbalance, und er hat zu einer starken Aufrüstung in der Region geführt. "Wir reden ja nicht nur von der Abwesenheit eines Konfliktes, sondern von echtem Frieden und Stabilität," sagt der Minister. "Wir hoffen auf eine regelbasierte Weltordnung, dass nicht Macht über Recht entscheidet. Wenn Konflikte entstehen, sollte es juristische und diplomatische Mittel geben, sie zu lösen."

Chinesische Kampfflugzeuge und US-Aufklärer kamen sich über dem Ozean gefährlich nah

Zur Durchsetzung dieser Interessen suchen zahlreiche, aber nicht alle Staaten der Region den Rückhalt der Vereinigten Staaten, die auf der anderen Seite dieser Auseinandersetzung um Einfluss und Souveränität stehen. Wenn sich also beispielsweise chinesische Kampfflugzeuge und US-Aufklärer über dem Ozean gefährlich nahe kommen, wie es kürzlich geschah, so nennt der Mediziner Balakrishnan dies ein Symptom eines fehlenden Gleichgewichts.

Zwei große Mächte müssen ihr Verhältnis zueinander also erst noch finden. "Wir glauben in Asien an die Idee der Balance", sagt der 55-Jährige. Und stößt damit zum Kern seiner Analyse vor: "Die entscheidende Variable ist hier das Verhältnis zwischen dem Aufsteiger China und den Vereinigten Staaten als einziger Supermacht der Welt." China sei "eine geografische Realität", und für die Staaten Asiens sei Peking Handelspartner Nummer eins oder zwei. "Wenn Sie historisch den Aufstieg neuer Großmächte betrachten, dann gab es noch nie eine Situation, wo wir dieses Ausmaß an wechselseitiger Abhängigkeit zwischen alter und neuer Macht hatten." Diese Abhängigkeit könne zähmen und stabilisieren.

Gleichzeitig macht Balakrishnan klar, dass er auf die amerikanische Präsenz vertraut. "Die USA haben sich zur pazifischen Macht erklärt. Der Lackmustest wird sein, ob sie das pazifische Freihandelsabkommen tatsächlich abschließen. Pazifische Macht ist man nicht, wenn man nicht Teil der wirtschaftlichen Architektur ist."

Und ist Europa nur ein Zuschauer in diesem Spiel um Vorherrschaft im 21. Jahrhundert? Im Gegenteil, sagt Balakrishnan, der die selbstquälerischen Debatten in Europa mit Sorge verfolgt und Deutschland als industriepolitisches Vorbild preist, als Vorreiter der industriellen Revolution 4.0. Die EU ist Vorbild und Referenzsystem: "Die größte Errungenschaft der EU ist es, dass Krieg in Westeuropa zumindest undenkbar ist, obwohl noch viele Probleme zu lösen sind." Europäische Uneinigkeit schwächt den Einfluss in Asien. Und sicher ist: "Die am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften werden wohl im asiatisch-pazifischen Raum liegen."

Wäre Singapurs Außenminister Deutscher, würde er sich für die Straße von Malakka, für Singapur und das Südchinesische Meer interessieren. "Das sind keine theoretischen Argumente. Das ist von enormer strategischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Hier geht es um echte Euros und Dollars."

© SZ vom 06.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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