Rechtsextremismus:Immer mehr untergetauchte Nazis in Bayern

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Beschlagnahmte Gegenstände - Waffen, Munition und CDs - aus der rechtsextremen Szene. (Foto: Sven Hoppe/picture alliance/dpa)

Die Zahl der Rechtsextremen, nach denen gefahndet wird, steigt - vor allem im Freistaat. Mögliche Ursache ist laut BKA ein "gewisser Corona-Effekt".

Von Ronen Steinke, Berlin

Seit Jahren steigt die Zahl der Neonazis, die in Deutschland per Haftbefehl gesucht, aber nicht gefunden werden. Waren es vor zehn Jahren nach damaligen Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) 266 Personen, so hat sich die Zahl seither mehr als verdoppelt. Zuletzt zählte das BKA 596 Rechtsextreme, nach denen gefahndet werde. Auffällig ist dabei: Ganz besonders viele Fälle liegen in Bayern. Aus dem Freistaat sind sogar mehr Rechtsextreme untergetaucht als aus jeglichem anderen Bundesland.

Nach einer Recherche, bei der die Süddeutsche Zeitung mit der Plattform Frag den Staat zusammengearbeitet hat, vermissten die Fahnder in Bayern zuletzt 128 Rechtsextreme. Das sind mehr als doppelt so viele wie in Sachsen (47) oder Berlin (56), viermal so viele wie in Niedersachsen (30) und sogar sechsmal so viele wie in Hessen (21). Die Zahlen geben den Stand vom 30. September 2021 wieder. Auf dem Platz hinter Bayern folgt erst mit weitem Abstand das Bundesland Nordrhein-Westfalen (98). Nordrhein-Westfalen hat indes auch wesentlich mehr Einwohner als Bayern.

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Das Problem untergetauchter Rechtsextremer ist spätestens seit Auffliegen der Terrorserie der Neonazi-Gruppe NSU besonders brisant. Die mit Haftbefehl gesuchten Mitglieder der Terrorzelle waren 1998 abgetaucht und konnten fast 14 Jahre lang ihren Fahndern entwischen. In dieser Zeit verübten sie - angefangen in Bayern - zehn Morde, drei Bombenanschläge und weitere Straftaten. Aus Thüringen, dem Land, aus dem der NSU stammte, werden derzeit 42 Rechtsextreme mit Haftbefehl gesucht, wie die aktuelle Recherche zeigt. Auch das ist im Vergleich zur Bevölkerungszahl auffällig viel.

Der Anstieg hat sich vor allem in der jüngsten Zeit beschleunigt. So sind zur Gesamtmenge der untergetauchten Rechten allein zwischen März und September 2021 bundesweit noch einmal 137 neue hinzugekommen. Zwar geht es nicht in allen Fällen um Gewalttäter. Manche Rechtsextreme werden auch wegen gewaltloser Delikte wie Volksverhetzung gesucht, oder auch wegen unpolitischer Taten. In den vergangenen drei Jahren verdreifachte sich aber insbesondere die Zahl der untergetauchten Rechten, die wegen eines Gewaltdelikts gesucht werden. 2019 waren es 23, 2020 waren es 30, 2021 waren es 87.

Ein Grund für den insgesamt zu beobachtenden Anstieg, so sagte der Präsident des BKA, Holger Münch, kürzlich im SZ-Interview, liege an einem "gewissen Corona-Effekt". Dieser bestehe darin, dass "manche Bundesländer die Vollstreckung von Haftbefehlen, die aufgrund von minderschweren Vergehen aus dem nichtpolitischen Bereich erlassen wurden, zurückgestellt haben". Kurz: Der Fahndungsdruck sei aktuell mancherorts nicht so hoch, wenn ein Rechtsextremer "nur" wegen eines unpolitischen Delikts wie Diebstahl oder einer Verkehrsstraftat gesucht wird.

In anderen Bundesländern bleiben Haftbefehle unveröffentlicht

Beim bayerischen Landeskriminalamt heißt es, Bayern sei im Vergleich zu anderen Bundesländern nicht langsamer oder nachlässiger, sondern vielleicht ehrlicher. Man gehe mit Haftbefehlen gegen Rechtsextreme offen um und veröffentliche diese so oft wie möglich im Computersystem der Polizei. In anderen Bundesländern komme es hingegen öfter vor, dass Haftbefehle gegen Rechtsextreme unveröffentlicht blieben. Das würde bedeuten, dass nur spezielle Einheiten der Polizei von diesem Haftbefehl erfahren. Diese Haftbefehle würden dann auch in keiner Statistik auftauchen.

Nach Erkenntnissen des Bundeskriminalamts aus dem vergangenen Dezember wird bei 87 deutschen Rechtsextremen, die mit offenem Haftbefehl gesucht werden, ein Aufenthalt im Ausland vermutet. Die meisten deutschen Neonazis - 13 - seien demnach nach Polen abgetaucht, gefolgt von Österreich (11), der Schweiz (7) und Italien (6). In einem Fall bezog sich ein Haftbefehl im Jahr 2021 auf eine rechtsterroristische Tat, dieser Haftbefehl wurde später jedoch wieder aufgehoben. In zwei weiteren Fällen betrachtet die Polizei die untergetauchten Rechtsextremen als sogenannte Gefährder. Das heißt, sie traut ihnen Anschläge zu.

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