Krieg in Syrien:"Dies sind die schlimmsten Tage meines Lebens"

Der 22-jährige Anas Al-Shamy lebt in Ost-Ghouta, das seit Wochen von Assad-Truppen beschossen wird. Seine Familie haust im Keller, die Vorräte werden knapp, Duschen ist lebensgefährlich. Ein Gesprächsprotokoll.

Von Dunja Ramadan

Mehr als 600 Menschen sind in den vergangenen zwei Wochen bei der Offensive der syrischen Regierung auf Ost-Ghouta getötet worden. Auf Twitter haben die Bewohner einen neuen Hashtag ausgerufen: #Ana Ayesh - Ich lebe. Dazu posten die Menschen ein Selfie von sich, während sie ihre Hand hochheben, als wären sie in der Schule. Anwesend. Viele von ihnen schreiben ein "Ich lebe noch" dazu.

Der 22-jährige Anas Al-Shamy möchte nicht sterben, ohne dass es jemand mitbekommt. In den Kellern und Schutzräumen hat er kein Netz, deshalb versucht er viel Zeit an der Oberfläche zu verbringen. Al-Shamy erzählt von einem Leben, in dem sogar der Gang zur Dusche lebensgefährlich sein kann. Seit Tagen schickt er Videos, Bilder und Sprachnachrichten aus Ost-Ghouta. Während wir telefonieren, benutzt Al-Shamy häufig die Kamera.

Einmal läuft ein Geschwisterpaar, vielleicht fünf, sechs Jahre alt, Hand in Hand durch die Straße. Der Junge fragt Al-Shamy nach Geld, das Mädchen steht still daneben. Ihre Eltern haben sie aus den Kellerräumen hochgeschickt, erzählen sie. Sie haben kein Geld mehr für Essen. Man möchte gar nicht wissen, wie verzweifelt die Lage der Familie ist, wenn sie ihre eigenen Kinder an die Oberfläche schicken, um zu betteln. Im Hintergrund hört man im Minutentakt Bomben einschlagen. Al-Shamy rät ihnen, schnell wieder in die Kellerräume zu gehen. Sie nicken nur und gehen weiter.

Anas Al-Shamy erzählt: "Wenn ich einem Menschen auf der Straße begegne, dann grüßen wir uns mit: "Gott sei Dank, dass du wohlauf bist." Wir kennen uns nicht, aber die Angst vereint uns. Der Tod ist überall, deshalb tut es so gut, wenn man etwas Lebendiges sieht. An anderen Tagen würde man lautlos aneinander vorbeigehen. Aber so etwas wie die vergangenen beiden Wochen haben wir noch nie erlebt. Das sind die schlimmsten Tage meines Lebens.

Die Straßen sind fast menschenleer. Regelmäßig ruft der Imam, man solle zu Hause beten und nicht mehr in die Moschee kommen. Menschenansammlungen sind zu gefährlich. Wenn die russischen und syrischen Flugzeuge Krankenhäuser und Schulen bombardieren, werden sie sicher nicht vor einem Gotteshaus haltmachen.

Ein Keller, 70 Menschen, eine Toilette

Meine Familie lebt in einem Keller, in dem eigentlich 20 Menschen Platz haben. Doch mittlerweile leben 70 Menschen da unten, Frauen- und Männerbereiche sind durch eine kleine Stellwand voneinander getrennt. Es gibt nur eine Toilette für all diese Menschen. Wenn man mal dringend muss, dann bekommt man Panik, wenn man die Schlange sieht. Oder wenn man sich für das Gebet waschen möchte, muss man ewig warten. Ich gehe meistens zu Freunden und schlafe bei ihnen. In dem Keller ist es schon so voll, die Luft ist schlecht. Frauen und Kinder haben außerdem Vorrang, weil es etwas sicherer ist als oben.

In dem Keller gibt es keine Dusche. Letztens hielt es mein jüngerer Bruder nicht mehr aus. Wir haben seit einer Woche nicht mehr geduscht, wir waren so schmutzig wie noch nie in unserem Leben - aber der Weg zu unserem Haus ist lebensgefährlich. Er sagte, das sei ihm jetzt egal, er sei so angewidert von sich selbst, dass er das in Kauf nehmen werde. Ich habe erst ein wenig überlegt, ob ich mitgehen soll, bin ihm aber dann hinterhergelaufen.

Anas al-Shamy, 22, auf den Trümmern seines Hauses in Ost-Ghouta

Anas Al-Shamy, 22, schläft die meiste Zeit bei Freunden, seine Familie lebt in einem Keller. Das Bild zeigt ihn auf den Trümmern seines Hauses. Aus Sicherheitsgründen soll er nicht erkannt werden.

(Foto: privat)

Wir schlichen durch die grauen Straßen, der Blick stets auf den Himmel gerichtet, von dem in den letzten Tagen so viel Gefahr ausging. So viel Zerstörung kann man als Mensch gar nicht verarbeiten. Zu Hause angekommen mussten wir mit kaltem Wasser duschen, dabei war es draußen schon so bitterkalt. Strom gibt es nicht, Benzin für Generatoren ist rar.

Ich habe zu Gott gebetet, dass wir uns nicht erkälten - es gibt so wenig Medikamente in Ghouta. Viele Apotheken haben gar nicht mehr geöffnet, die Krankenhäuser sind überlastet. Man sollte in diesen Tagen besser nicht krank werden. Doch die Chancen stehen schlecht: In den überfüllten Kellerräumen liegt die Krankheit sozusagen in der Luft. Viele Menschen waren seit 15 Tagen nicht mehr an der Oberfläche.

Zu essen gibt es nur Brot, Bohnen und Reis, die Vorräte sind fast aufgebraucht

Außerdem gibt es kaum Lebensmittel. Vor kurzem bin ich an einem kleinen Gemüsestand vorbeigekommen, die Auslage war ein Trauerspiel, ein paar traurige Salat- und Kohlköpfe, ein paar Bünde Petersilie. Tomaten und Gurken gibt es nicht. Dabei hatte ich seit Tagen richtig großen Appetit auf Fattoush (bunter Salat mit gebratenen Fladenbrotstückchen).

Als ich dem Mann davon erzählte, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen: "Wie kannst du jetzt nur daran denken?", rief er, während die Luftangriffe am Himmel weiterliefen. "Sieh zu, dass du weiterkommst. Möge Gott dich beschützen!" Ich nahm also die Petersilie und den Salat und stellte mir einfach vor, es wäre Fattoush.

Anas al-Shamy, Ost-Ghouta

Mit seinem Handy dokumentiert Anas Al-Shamy die Zerstörung in seiner Heimat Ost-Ghouta. Ein Freund von ihm (im Bild) tut es ihm gleich.

(Foto: Anas Al-Shamy)

Wer hätte gedacht, dass sogar Fattoush mal zu einem der Wünsche wird, die man sich in Ghouta nicht mehr erfüllen kann? Wir essen nur Brot, Bohnen und Reis, aber die Vorräte sind fast aufgebracht. Es gibt nicht einmal mehr Zucker zu kaufen. Der UN-Hilfskonvoi ist in einigen Stadtteilen angekommen, aber der Bedarf ist zu groß, um mit Vorräten von ein paar Lastwagen gestillt zu werden.

"Die Welt hat uns schon längst aufgegeben"

Gestern habe ich versucht, um ein Uhr nachts einzuschlafen. Meine Freunde lagen neben mir. Auch sie konnten nicht schlafen. Dabei waren wir so ausgelaugt. Seit Tagen ist an Schlaf nicht zu denken, weil es draußen so laut ist. Die Luftangriffe hören einfach nicht auf."

Al-Shamy macht seine Videokamera an und zeigt weiße Plastikplanen am Fenster. Sie schützen weder vor kaltem Wind noch vor den angsteinflößenden Geräuschen. Immer wieder hört man während des Telefonats Bomben einschlagen. "Das ist doch verrückt. Was ist das für eine Feuerpause?", fragt er. Und erzählt weiter:

"Ich bin 22 Jahre alt, ich sollte studieren, Freunde treffen, Spaß haben. Aber seit Ausbruch des Bürgerkrieges muss ich arbeiten, um meine Familie zu unterstützen. Ich habe keinen Abschluss, musste die Schule verlassen. Das ist alles nicht fair.

Trotz all dieser Hoffnungslosigkeit habe ich das Gefühl, Gott in diesen Tagen besonders nah zu sein. Das Erste, was ich mache, wenn mich die Luftangriffe nach ein paar Stunden wecken, ist das Beten. Vielleicht liegt es daran, dass einem die Endlichkeit jede Sekunde vor Augen geführt wird. Und Gott ist der Einzige, der uns beschützen kann. Die Welt hat uns schon längst aufgegeben. Ich grüße alle da draußen, die das lesen. Ihr sollt wissen, wir leben - noch."

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