Proteste der Uiguren:Der Tiananmen-Moment

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Beim blutigen Konflikt in der Provinz Xinjian will Peking die Han-Chinesen als Opfer zeigen. Doch die Uiguren bringen die Inszenierung durcheinander.

Henrik Bork, Urumqi

Dieses Bild wird von hier aus um die Welt gehen. Heute noch. Das ist in dem Moment klar, als es entsteht. Eine uigurische Frau mit Kopftuch, allein und auf eine Krücke gestützt, die einer Phalanx chinesischer Militärpolizisten trotzt. Es ist eines jener Fotos von archaischer Kraft, in denen sich Geschichte bündelt wie das Sonnenlicht in einem Brennglas.

Wo sind unsere Männer, unsere Söhne? Uigurische Frauen lassen sich nicht von den chinesischen Sicherheitskräften einschüchtern. (Foto: Foto: AFP)

Ein Mann alleine vor einer Reihe von Panzern - auch das war so ein Bild. Nun aber haben auch die Uiguren ihre Ikone, dieses von der Welt vergessene, unterdrückte Turkvolk im Nordwesten Chinas.

Der Tiananmen-Moment der Uiguren

"Die Chinesen haben uns hierher gebracht, um uns ihre Sicht der Dinge zu verkaufen, und jetzt haben die Uiguren ihren Tiananmen-Moment", sagt der Fotograf der Nachrichtenagentur AFP. "Pferderennbahn" (Saimachang) heißt die breite Straße in Urumqi, auf der sich die Szene abspielt.

Es ist kurz vor zwölf am Dienstagmittag. 200 Uigurinnen demonstrieren. Eine Hundertschaft von Militärpolizisten rückt vor. Die Uigurin auf den Krücken löst sich aus der Menge. Sie humpelt auf den Einsatzwagen vor ihr zu, ein riesiges, weißes Monster. Der Wagen weicht zurück. Der Fotograf drückt auf den Auslöser seiner Nikon-Kamera.

Die Kommunistische Partei in Peking hatte sich diesen Vormittag anders vorgestellt. Sie hatte rund 60 ausländische Journalisten in sechs Kleinbussen zur "Rennbahn" gefahren. Am rechten Straßenrand liegen hier die verkohlten Überreste des Autogeschäfts "Tongtong Shangmao". Es war am Sonntag von randalierenden Uiguren angezündet worden.

Die Uiguren fühlen sich benachteiligt - aber erklärt das den Hass?

Zunächst läuft alles nach Plan. Frau Qian, die Ehefrau des Besitzers, erzählt mit Tränen in den Augen, wie sich der Mob gezielt die Läden von Han-Chinesen und von Angehörigen der Hui-Minderheit ausgesucht hätten. "Warum?", fragt einer. Frau Qian weiß es auch nicht.

Wer kann schon Rassenhass erklären, diese ewige Spirale aus Gewalt und Gegengewalt, dieses archaische Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die neun Millionen Uiguren fühlen sich den han-chinesischen Siedlern in Xinjiang gegenüber wirtschaftlich benachteiligt. Sie sind Muslime, die Chinesen Atheisten, auch das spielt eine Rolle. Aber erklärt das alles den Hass?

Nur die jüngsten Fakten bieten ein wenig Halt. Am 26. Juni hatte ein han-chinesischer Mob in einer Spielzeugfabrik in Shaoguan mit Knüppeln und Eisenstangen Jagd auf uigurische Wanderarbeiter gemacht. Sie hätten Chinesinnen vergewaltigt, besagte ein Gerücht. Zwei Männer wurden an Ort und Stelle totgeprügelt. Viele andere wurden schwer verletzt.

Videobilder dieser rassistisch motivierten Gruppengewalt kursierten im Internet. Sie wurden in Urumqi heftig diskutiert. "Die Behörden haben das nicht gerecht untersucht. Sind wir Uiguren denn keine Menschen?", fragt eine Nachbarin der Frau mit der Krücke an diesem Dienstag.

Am Sonntagabend rannten rund 1000 aufgebrachte Uiguren durch die Straßen von Urumqi. Sie hätten zunächst friedlich demonstriert, behaupten Exil-Uiguren, bis Chinas Sicherheitskräfte brutal eingriffen. Das ist möglich, aber schwer zu überprüfen. Wahrscheinlich aber stimmt auch, was Peking behauptet, dass die Uiguren im Laufe einer Nacht des Terrors auch Jagd auf unschuldige Han-Chinesen gemacht haben.

Unschuldige Chinesen wurden hier in Urumqi so gejagt, wie zuvor in Guangdong die Uiguren gejagt worden waren. So wie Herr Yao aus Anhui, den Xinhua zitiert. "Sie brachen in mein Haus ein und schlugen mir mit eisernen Stangen auf den Kopf", sagt Yao. Er habe sowohl Chinesen als auch Uiguren als Freunde, sagt er auch. Später dann, zu spät vielleicht, jagten dann die Polizisten wieder die Uiguren, und die Spirale drehte sich weiter.

Am Ende waren 156 Menschen tot und mehr als 1000 verletzt, so die Bilanz des Polizeichefs der Stadt. "Wie viele der Toten waren Han-Chinesen, wie viele waren Uiguren oder Angehörige anderer Minderheiten", wird er gefragt. Darauf gibt er keine Antwort.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die Propaganda der chinesischen Regierung nicht mehr funktioniert.

China und die Uiguren
:Unruhen in Urumqi

Brennende Autos, blutende Menschen: Der Hass zwischen Uiguren und Han-Chinesen entlädt sich in Xinjiang in Gewalt. Peking schickt Tausende Soldaten und Polizisten. Die Stimmung bleibt aggressiv. In Bildern.

Chinas Regierung und ihre Medien porträtieren die Uiguren seit Tagen allein als Täter, die Chinesen allein als Opfer. "Separatistische Drahtzieher", ja "Terroristen" sollen unter den Uiguren sein. Dieses Bild ist genauso schief wie das, das Peking von den Tibeter-Unruhen im Frühjahr vergangenen Jahres gezeichnet hatte. Auch diese Propaganda, eine Spezialität der Führung in Peking, ist ein Grund für die plötzliche Verschärfung der seit Jahrhunderten existierenden Spannungen in Xinjiang.

Doch alle Propaganda hat ihre Grenzen. Gerade als die ausländischen Journalisten wieder die chinesischen Opfer filmen, als sie dieses einseitige Bild in alle Welt verschicken sollen, da ertönt plötzlich aus der Seitengasse neben der "Pferderennbahn" ein vielkehliges Geschrei. Rund 200 Uigurinnen drängeln sich zwischen den Gemüseständen und Lammfleisch-Grills eines kleinen Straßenbasars.

Ein Kratzer als Tatverdacht

"Die Frauen sind bunt gekleidet. Ihre Kopftücher sind oft schwarz. Manche tragen schwarze Burkas, die den ganzen Kopf verhüllen. Durch einen Schlitz sind dann nur die Augen zu sehen. Viele dieser Augenpaare sind verweint. Viele der Frauen schreien auf die Reporter ein, die sich inzwischen unter sie gemischt haben. "Wir wollen unsere Männer zurück", ruft eine. "Wo ist mein Sohn?" ruft eine andere.

1434 verdächtige Uiguren" habe man bereits festgenommen, wird der Polizeichef am Nachmittag stolz erzählen. Die Frauen neben der "Pferderennbahn" berichten, wie das vor sich ging. "Gestern gegen sechs Uhr abends kamen die Polizisten und zerrten meinen Mann auf die Straße", sagt eine der Uigurinnen. Die Männer, etwa 300 von ihnen, mussten sich auf offener Straße nackt ausziehen, berichten sie.

Die Polizisten sollen die Uiguren getreten und geschlagen haben. "Wer eine Verletzung am Körper hatte, irgendeinen Kratzer, der wurde abtransportiert", sagt eine Frau. Ein Kratzer als Tatverdacht! Sie nennt ihren Namen, hält sogar ihren Personalausweis zum Lesen hin. Doch in diesem Klima der Vergeltung und Gegen-Vergeltung bleibt ihr Name wohl besser ungenannt.

Die Staatsmacht filmt mit

Es ist eine mutige Demonstration, auch eine verzweifelte, angesichts der ständig präsenten Staatsmacht, die mit Videokameras filmt. Auch die Frau mit den Krücken ist da. Eine Frau zeigt das Foto eines 20-jährigen Jungen. "Mein Junge hieß Aise-Djiang. Am Sonntag schossen die Polizisten in die Luft. Eine Kugel prallte von einer Hauswand ab und traf ihn ins Auge. Gestern Morgen ist er gestorben." Wie viele der Toten sind Opfer der Lynchjustiz, wie viele sind Opfer der Staatsgewalt? Die Geschichten sind schwer überprüfbar.

Gegen elf Uhr laufen die Frauen aus der Basargasse hinaus auf die "Pferderennbahn". Ein paar Männer sind auch dazwischen. Ein paar hundert Meter weiter unten steht eine Hundertschaft "wujing", chinesische Militärpolizei. Die Frauen recken die Fäuste in die Luft und rufen Parolen. Die Paramilitärs in ihren Tarnanzügen rücken vor, lange Knüppel und Plastikschilde in der Hand. Vier weiße Einsatzfahrzeuge folgen ihnen. Von der anderen Seite her schneiden schwarz gekleidete Spezialpolizisten ("tejing"), mit Tränengas-Gewehren und scharfen Hunden an kurzer Leine, den Frauen den Weg ab.

Mal rücken die Einsatzkräfte vor. Dann wieder stürmen die Frauen nach vorne. Eine Weile lang geht das so hin und her. Und dann steht plötzlich die Frau mit der Krücke in der Mitte. Ganz alleine humpelt sie auf einen der Mannschaftswagen zu. Der Fahrer lässt den Motor an. Die Polizisten weichen zurück. Der Fotograf drückt ab.

Ein chinesischer Journalist sagt in diesem Moment, inmitten all des Chaos, einen interessanten Satz. "Das ist so ungerecht! Hier sind Chinesen ermordet worden, und jetzt sind wieder die Uiguren die Opfer." Kurz danach wird der Protest aufgelöst, die Journalisten wieder in ihre Busse getrieben.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum sich beide Seiten als Opfer fühlen und warum sich die angestaute Wut der Uiguren so plötzlich entlädt.

Ungerecht? Diese Frage beleuchtet wie ein Schlaglicht den Verständigungsverlust zwischen den Han-Chinesen und den von ihnen beherrschten Minderheiten. Man mag das "typischen Han-Chauvinismus" nennen, wie es chinesische Intellektuelle manchmal selbstkritisch tun.

Jedenfalls ist klar erkennbar, wie wenig sich beide Seiten verstehen, die Han-Chinesen und die Uiguren. Wie wenig sich vor allem diejenigen an der Macht, die Parteikader und Elite-Journalisten in Peking, um das Verständnis dieser Minderheit bemühen.

Beide Seiten sehen sich als Opfer - Han-Chinesen und Uiguren

Die Chinesen fühlen sich derzeit erkennbar in der Opferrolle, nach diesen Unruhen in Urumqi. Deshalb hat man nun die ausländischen Journalisten einfliegen lassen, die sonst in Gebieten mit ethnischen Konflikten unwillkommen sind. Hat ihnen sogar im Hotel "Haide Dajiudian" ein Pressezentrum eingerichtet, sie mit Kleinbussen zur "Rennbahn" gefahren.

Und die Uiguren verstehen die Welt nicht mehr, wenn sie den Chinesen zuhören, die sich plötzlich als Opfer fühlen. Wer hat in Guangdong Uiguren erschlagen, fragen die Uiguren zurück, in Gesprächen, die normalerweise heimlich geführt werden müssen, weil auf allen Basaren Spitzel unterwegs sind.

Wer verbietet uns die freie Ausübung unserer Religion, drangsaliert unsere Prediger? Warum haben Uiguren eine Lebenserwartung, die rund zehn Jahre kürzer ist als die der Chinesen? Wer siedelt sich hier millionenfach an, ungerufen, dem weder das Wort des Propheten heilig ist noch die Freiheit der Minoritäten? Warum gehört der Autoladen da drüben nicht uns, den Uiguren? Wer verhaftet und prügelt unsere Söhne?

Die meisten Uiguren sind Muslime. Doch der Islam in der Provinz Xinjiang ist aus Sicht Pekings eine wichtige, aber nicht die wichtigste Bedrohung ihrer Herrschaft. Vielmehr sind die Uiguren, die gerne echte Autonomie hätten, eine ethnisch-nationalistische Bedrohung.

Dieses Volk ist stolz auf seine eigene Sprache und Kultur. Xinjiang grenzt an mehrere zentralasiatische Staaten. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Renaissance des Nationalismus in Zentralasien glaubt Peking, die Uiguren mit harter Hand regieren zu müssen. Verhaftungen zu Tausenden und politisch motivierte Hinrichtungen sind von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International hinlänglich dokumentiert. Die Spannungen, die sich jetzt mit Macht entladen, haben sich über zwei Jahrzehnte allmählich aufgebaut.

Am späten Dienstagnachmittag gerät die Lage in Urumqi völlig außer Kontrolle. Statt ethnischer Spannungen, die hier sonst unter der Oberfläche knistern, bricht der Rassenhass als offener Flächenbrand hervor. In den Straßen der Innenstadt ist ein wütender Mob han-chinesischer Männer unterwegs, bewaffnet mit Schaufeln, Spitzhacken und Brechstangen. "Steckt die Moschee an", schreien einige. Andere werfen Steine.

"Die Fahrt ins Krankenhaus muss leider ausfallen", sagt Herr Xu vom Außenministerium. Und ausfallen muss auch ein längeres Gespräch mit der Frau mit der Krücke.

© SZ vom 08.07.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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