Prager Fenstersturz 1618:Die Herren vom hohen Fall

1618-1648: Dreißigjähriger Krieg - Prager Fenstersturz

Auslöser eines Krieges, der das Heilige Römische Reich Deutscher Nation verwüstete: Böhmische Protestanten werfen die kaiserlichen Statthalter aus einem Fenster des Prager Hradschin, 23. Mai 1618.

(Foto: SZ Photo)

Jaroslaw von Martinic überlebte den Prager Fenstersturz, mit dem im Mai 1618 der Dreißigjährige Krieg begann. Doch die Tat verlief wohl anders, als in vielen Büchern steht. Eine Spurensuche in Tschechien und in Österreich.

Von Oliver Das Gupta, Prag/Burg Clam

Die Burg Clam in Oberösterreich dient als Kulisse für Rockkonzerte, diesen Sommer etwa treten dort Nick Cave und Jack Johnson auf. Die eigentliche Attraktion ist allerdings die Festung selbst, ihre Architektur und Geschichte und die vielen Geschichten der Bewohner und Besucher.

Zweimal wurde die Burg im späten Mittelalter belagert, doch erwies sie sich stets als uneinnehmbar. Im Hauptwohnturm liegt das Fell einer jungen Tigerin samt Kopf - ein Jagdmitbringsel von der Weltreise, die der einstige Burgherr Heinrich Clam-Martinic im 19. Jahrhundert mit dem Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand unternahm. Später diente derselbe Graf dann als vorletzter Ministerpräsident von Österreich-Ungarn.

Und da ist der Balkon des Rittersaals, unter dem 100 Meter tiefer das Wasser in der vom dichten Grün verdeckten Klamschlucht gurgelt. "Ist der auch stabil?", fragte Thomas Bernhard einst, als er ihn das erste Mal betrat.

Derart inspiriert baute der Schriftsteller übrigens einen Balkon in sein vorletztes Werk "Elisabeth II. - Keine Komödie" als zentrales Element ein, auf dem sich die Schaulustigen drängen. Am Ende des Stückes stürzt der Balkon - o schreckliches Finale - in die Tiefe.

Gemälde des "Defenestrierten" mit Armschlinge

Was machte der Österreich-Erschütterer Thomas Bernhard als Gast ausgerechnet hier, in der Stammburg eines der ältesten österreichischen Adelsgeschlechter? "Meine Eltern mochten den einfach", sagt der heutige Burgherr Carl Philip Clam-Martinic: "Bernhard hatte hier Narrenfreiheit."

Ein Sturz anderer Art spielt noch eine wesentlich größere Rolle. Besucher führt Familienoberhaupt Clam-Martinic dazu gerne zum Porträt eines seiner direkten Vorfahren, der kurz vor der Entstehung des Gemäldes dem Tode entronnen war. Das 400 Jahre alte Bild zeigt Jaroslaw Borsita von Martinic in edlem Gewand, auch der Griff seines Schwertes ist zu sehen. Erhaben schaut der böhmische Edelmann drein, der braune Bart ist gepflegt, in der rechten Hand hält er ein beschriebenes Papier.

Besonders an dem Gemälde aber ist der gebrochene linke Arm, der von einem Tuch gehalten wird. Martinic verletzte sich am 23. Mai 1618 bei einem der folgenreichsten Mordversuche der Menschheitsgeschichte: dem Prager Fenstersturz. Allerdings brach sich der kaiserliche Statthalter nicht beim tiefen Fall von mindestens 17 Metern den Arm, sondern unmittelbar danach durch ein Missgeschick. Doch dazu später.

Martinic besaß viel Land und großen Einfluss, er verfügte über immensen Reichtum, auch deshalb war er nah dran an den Habsburger-Kaisern. Doch der Ruf des streng katholischen Adeligen bei der protestantischen Bevölkerungsmehrheit war miserabel. Angeblich ließ er sogar Hunde auf andersgläubige Untertanen hetzen, um sie zur Messe zwingen.

Prager Fenstersturz 1618: Er schrieb seine Rettung himmlischen Mächten zu: Jaroslaw Borsita von Martinic, einer der "Defenestrierten".

Er schrieb seine Rettung himmlischen Mächten zu: Jaroslaw Borsita von Martinic, einer der "Defenestrierten".

(Foto: bpk, Oliver das Gupta)

Manche Protestanten fürchten damals, dass Martinic ein katholisches "Dominat" in Böhmen errichten könnte. Deshalb haben sie es auch auf ihn abgesehen, als sie sich an jenem verhängnisvollen Mittwoch vor 400 Jahren gegen neun Uhr vormittags in Prag auf den Weg machen. Die auf etwa 200 Männer angewachsene Gruppe marschiert hinauf zur Burg, dem Hradschin.

Prager Fenstersturz 1618: Gemälde mit Armschlinge: Jaroslav Borsita von Martinic (1582-1649) ließ sich nach dem Fenstersturz porträtieren.

Gemälde mit Armschlinge: Jaroslav Borsita von Martinic (1582-1649) ließ sich nach dem Fenstersturz porträtieren.

(Foto: Oliver Das Gupta)

Dort platzen sie unter Führung von Heinrich Matthias von Thurn in die böhmische Staatskanzlei, wo sich gerade kaiserliche Statthalter treffen - allesamt Katholiken. Es geht um unterschiedliche Interpretationen von Verträgen, vor allem um die freie Religionsausübung. Thurn gilt als Heißsporn, er hat mit Martinic auch noch eine persönliche Rechnung offen, weil jener ihm seinen prestige- und geldträchtigen Posten als Wächter der Reichsinsignien abgeluchst hat.

Die Eindringlinge haben den Coup geplant: Sie lassen die Situation eskalieren und improvisieren ein Gerichtsverfahren. Am Ende werfen sie zwei besonders verhasste Statthalter aus dem Fenster: Martinic und Wilhelm Slavata von Chlum und Koschumberg. Auch der Kanzleischreiber Philipp Platter, genannt Fabricius, wird gepackt und hinausbefördert.

Beide Seiten radikalisieren sich nun, und der böhmische Aufstand gegen das verhasste katholische Kaiserhaus mündet in ein umfassendes Gemetzel: den Dreißigjährigen Krieg.

Legenden ranken sich darum, wie die Männer den Fenstersturz überstanden

Als 1648 der Westfälische Frieden geschlossen wird, sind etwa acht Millionen Menschen tot. Mitteleuropa ist weitgehend verwüstet - und die Tschechen sind dazu verdammt, bis 1918 ein Anhängsel Wiens zu bleiben.

Am Anfang aber steht der Prager Fenstersturz. Die Wirkmächtigkeit der "Defenestrierung" ist vergleichbar mit den Schüssen, die 1914 in Sarajevo auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger abgegeben wurden und den Ersten Weltkrieg auslösten.

Einen signifikanten Unterschied gibt es allerdings: Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie starben bei dem Attentat - die drei Rausgeworfenen von Prag überlebten zur allgemeinen Überraschung ohne bleibende Schäden.

Prager Fenstersturz 1618: Die Nachfahren von Jaroslaw Borsita von Martinic leben bis heute auf Burg Clam in Österreich.

Die Nachfahren von Jaroslaw Borsita von Martinic leben bis heute auf Burg Clam in Österreich.

(Foto: Mauritius Images)

Wie so etwas möglich ist, darüber gehen die Meinungen seit jeher auseinander. Sowohl die katholische als auch die protestantische Propaganda bieten damals sofort Erklärungen an.

Martinic schreibt seine Rettung der Jungfrau Maria zu, die Slavata in einem Votivbild verewigen lässt: Die drei frommen Katholiken schweben mit Hilfe von Engeln sanft zur Erde, die Muttergottes und das Jesuskind in ihrem Arm sehen dabei zu. Das vermeintliche Gotteswunder vom Hradschin zahlt sich in den Kriegsjahren abermals aus: Die Geschichte wirkt in den Reihen der Katholiken motivierend.

Schiller und der Misthaufen

Die Protestanten hingegen setzen die Version in die Welt, wonach Unrat den Sturz gebremst haben soll, nach dem Motto: Wenn die Katholiken schon überlebt haben, dann auf möglichst ekelhafte Weise.

In den Hirnen verankert ist diese Variante dank Friedrich Schiller, der dazu schreibt: "Ein Misthaufen, auf dem die kaiserliche Statthalterschaft zu liegen kam, hatte sie vor Beschädigung gerettet." Gustav Struve, der radikaldemokratische Revolutionär von 1848/49, behauptet in seiner "Weltgeschichte", dass Martinic, Slavata und Platter auf "alte Papiere und Dünger" gefallen seien.

Carl Philip Clam-Martinic, das heutige Oberhaupt der Familie, hat eine andere Erklärung. Durch die weiten Pluderhosen und Mäntel sei die Fallgeschwindigkeit verlangsamt worden, sagt der Graf. In der Familie sind weitere Details zum Fenstersturz von Generation zu Generation weitergegeben worden.

Demnach rief Martinic beim Hinabfallen nach Maria und kam unverletzt an der Seite des Grabens an. Schreiber Platter hingegen sei in den Graben gefallen und habe laut vor Schmerz geschrien, sagt Clam-Martinic. "Jaroslaw ist zu ihm runtergerollt und hat sich dabei mit dem Arm in der Aufhängung seines Schwertes verheddert" - knack, der Knochen war durch.

30 Jahre Krieg

Wenige Menschen in Mitteleuropa hätten sich im Januar 1618 vorstellen können, welcher Horror über sie hereinbrechen und dass dieser drei Jahrzehnte währen sollte. Eigentlich herrschte Frieden, und der Augsburger Religionsfrieden von 1555 hatte es ermöglicht, dass Katholiken und die neue Konfession der Protestanten zumindest in Koexistenz lebten. Doch religiöser Fanatismus und die Konkurrenz der Mächte ließen die Spannung steigen, und am 23. Mai 1618 entlud sie sich. Böhmen, zu gut 90 Prozent protestantisch, stand unter der Herrschaft des katholischen Habsburger Kaisers, der ihre Rechte zunehmend beschnitt. Wütende Protestanten stürmten die Prager Burg und warfen die kaiserlichen Statthalter aus dem Fenster. Der böhmische Aufstand scheiterte 1620 mit der Schlacht am Weißen Berg, doch zog der Krieg mit der Gewalt einer Lawine immer neue Mächte mit sich. In dem schier endlosen Gemetzel ("Der Krieg ernährt den Krieg"), der erst 1648 mit dem Frieden von Münster und Osnabrück endete, kamen etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung durch Hunger, Seuchen und Gewalt um.

Vor dem 400. Jahrestag des Kriegsbeginns sind zahlreiche Bücher über das Drama erschienen. Lesetipps: Herfried Münkler: Der Dreißigjährige Krieg, Europäische Katastrophe, deutsches Trauma, Rowohlt Berlin. Georg Schmidt: Die Reiter der Apokalypse, C. H. Beck. Peter H. Wilson: Der Dreißigjährige Krieg - Eine europäische Tragödie, Theiss Verlag.

Die weitere Rettung kam laut Familiengeschichte dank Polyxena von Lobkowicz zustande. Die Ehefrau des böhmischen Oberstkanzlers sei unterhalb der Prager Burg aufgetaucht, sie habe Martinic und dem vom Sturz benommenen Slavata mit ihrem weiten Mantel Sichtschutz gegeben.

Dann habe sie die beiden in ihrem nahegelegenen Palais untergebracht und die Verfolger vor der Tür abgewimmelt. "Diese Geschichte wird seit Generationen jedes Mal erzählt, wenn ein Martinic auf einen Lobkowicz trifft", sagt Carl Philip Clam-Martinic. Die Variante vom Misthaufen hält er für Mumpitz.

Der Nachfahre hat wohl recht. Das Fenster liegt auf der Seite der Prager Burg, die der Moldau und der Altstadt zugewandt ist und bald steil abfällt. Heute kann man dort durch gepflegte Gartenanlagen flanieren.

Pferdeställe existierten hier wohl auch früher nicht: Platz gibt es wenig, und vor allem ist es nicht plausibel, dass sich damals ausgerechnet an dieser Stelle ein stinkender Haufen befunden haben soll: Direkt darüber war die Staatskanzlei, nebenan der repräsentative Wladislaw-Saal.

"Von Hohenfall" - Namensgebung mit Humor

Zum Dank für die glückliche Rettung hat Martinic eine Gedenksäule unterhalb des Fensters errichtet, Slavata ebenso ein paar Meter weiter. Von unten gesehen beeindruckt die Höhe, die Martinic und die beiden anderen unfreiwillig zurückgelegt haben.

Ebenso fallen Fenstersimse und Mauervorsprünge auf - sie könnten den Fall gebremst haben. Von Slavata ist überliefert, dass er sich an einem Vorsprung oder Sims am Kopf verletzt hat.

Schräg unterhalb des Fensters geht eine alte, abgeschrägte Mauer im rechten Winkel ab. Hier könnten die Gestürzten sich abermals festgehalten haben und das letzte Stück hinuntergerutscht sein. Die Rettung durch die Gräfin Lobkowicz klingt plausibel. Ihr Palais befindet sich in Sichtweite, nur wenige Gehminuten entfernt - es ist ein Gebäudeteil des Hradschin.

Matthäus Merian fertigte 28 Jahre später den wohl bekanntesten Stich zum Fenstersturz an - doch auch so, wie er ihn darstellt, kann es nicht gewesen sein. Die Ungereimtheiten sind frappierend: Auf dem Stich ist der Raum verlängert, zwei auseinanderliegende Fenster sind geöffnet, damit die Männer hinausgeworfen werden können - in Wirklichkeit gibt es nur ein Doppel-Fenster pro Seite. Von vorne und von links drängen die Protestanten bei Merian in den Raum - doch tatsächlich gibt nur eine Tür, die zum Tatort führt.

Die drei Sturzopfer entkamen den Häschern allesamt. Schreiber Platter eilte nach Wien und erstattete dem Kaiser Bericht. Zum Dank wurde er zum Ritter geschlagen und erhielt zusätzlich den Namen "von Hohenfall" - Humor hatten die Habsburger offenbar.

Martinic und Slavata überlebten den Dreißigjährigen Krieg, ihre Macht wuchs - ihr Reichtum auch. Martinic band sich noch mehr an das Herrscherhaus und übernahm sogar die Buchstaben dreier Habsburger-Kaiser in sein Wappen.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Familie in der neuen Tschechoslowakei enteignet

Ende des 18. Jahrhunderts fusionierten durch eine Hochzeit die Häuser Martinic und Clam, was für beide gewisse Vorteile barg: Die letzte Gräfin Martinic konnte den Familiennamen vor dem Erlöschen retten; und die bis dahin nicht so begüterten Clams kamen zu ausgedehnten Ländereien und Geld, sagt das heutige Familienoberhaupt Carl Philip Clam-Martinic und lächelt. Er zeigt im Rittersaal auf die Gemälde seiner Vorfahren.

Da ist etwa Graf Karl zu sehen, Spross der ersten Generation des neuen Doppelgeschlechts. Er kämpfte erst gegen Napoleon, dann begleitete er den Franzosenkaiser ins Exil nach Elba. Später nahm Karl am Wiener Kongress teil, wurde Gesandter und Generaladjutant des Kaisers. Seine Militärkarriere krönte er mit dem klingenden Titel Feldmarschallleutnant.

Die Nähe zum Herrscherhaus Habsburg erwies sich 1918 plötzlich als Nachteil, als der Erste Weltkrieg endete. Als eines der wenigen Adelsgeschlechter wurden die Clam-Martinic in der neu entstandenen Tschechoslowakei völlig enteignet, da half auch nicht, dass die Familie Tschechisch sprach.

Graf Heinrich, das damalige Oberhaupt des Hauses, wurde zum Staatsfeind erklärt, weil er 1916/17 dem letzten Kaiser Karl als Regierungschef gedient hatte.

Immerhin konnte die Familie einen Großteil der beweglichen Habe per Güterzug nach Österreich transportieren. So kamen auch drei Ölgemälde von Jaroslaw Borsita von Martinic auf die Burg Clam. Außerdem befindet sich ein bislang kaum bekanntes Kunstwerk nach wie vor in Familienbesitz, das Bezug nimmt auf die Ereignisse von 1618: eine Fenstersturz-Standuhr mit Miniaturbildern von Martinic, Slavata und Platter.

Carl Philip Clam-Martinic zieht sie auf - die Uhr funktioniert noch immer. Der junge Graf, ein zugewandter und gebildeter Mann, ist bestens vernetzt. Einer seiner Freunde gehört zur Nachkommenschaft von Heinrich Matthias von Thurn - dem Mann, der Carl-Philips Vorfahren in Prag aus dem Fenster warf.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: