Polen: Spekulation um Kaczynski:Ein Absturz und ein entsetzlicher Verdacht

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Noch ist Polen starr vor Trauer um seinen toten Präsidenten. Nun kommen Spekulationen auf, dass Lech Kaczynski den Piloten zur Landung überredet haben könnte.

Corinna Nohn

Man redet nicht schlecht über Verstorbene, zweifelt an ihnen, noch bevor sie beerdigt worden sind.

Noch ist Polen starr vor Trauer um seinen toten Präsidenten, weint um die Toten von Smolensk und versucht, die Tragweite dieses Unglücks zu erfassen. Doch es mehren sich die kritischen Fragen nach der Ursache, danach, warum der Pilot die riskante Landung trotz Warnungen wagte.

Zwar stellte der polnische Generalstaatsanwalt Andrzej Seremet klar, es gebe bisher keine Hinweise, dass auf den Piloten Druck ausgeübt worden sei, trotz des schlechten Wetters in Smolensk zu landen. Auch die polnischen Medien halten sich noch mit Spekulationen zurück, ob einer der Generäle an Bord oder gar Lech Kaczynski eventuell eine Mitschuld an dem tragischen Unglück vom 10. April zukommt.

Anders reagiert die Bild-Zeitung, die am Montag nach dem Unglück titelt: "Zwang Polens Präsident den Piloten zur gefährlichen Landung im Nebel?"

Vier Landeanflüge sind "sehr ungewöhnlich"

Das vermutet auch die deutsche Pilotenvereinigung Cockpit. "Dass vier Anflüge versucht wurden, legt nahe, dass hier Druck auf die Piloten ausgeübt wurde", sagte Jörg Handwerg, Sprecher der Vereinigung und selbst erfahrener Flugkapitän, zu stern.de. Vier Landeanflüge seien "sehr ungewöhnlich".

Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Kaczynski einen Piloten unter Druck gesetzt hat. Vor zwei Jahren, während des Georgienkonflikts, geriet der Präsident mit einem Flugkapitän aneinander, der sich aus Sicherheitsgründen weigerte, in Tiflis zu landen. Wer sich entscheide, Offizier zu sein, sollte kein ängstlicher Mensch sein, soll sich Kaczynski damals beschwert haben.

Äußerst schlechte Sicht

Klar ist, dass der Pilot der am Samstag verunglückten Tupolew äußerst schlechte Sicht hatte. Über Smolensk lag dichter Nebel, die Sicht am Boden betrug nach Aussagen von Zeugen höchstens 500 Meter. Ein anderer Pilot, der zu der Zeit mit seiner Maschine am Boden stand, sagte laut Berichten polnischer Medien, er habe nicht einmal ein Drittel der 1600 Meter langen Start- und Landebahn überblicken können.

Dreimal kreiste das Flugzeug der polnischen Delegation über dem Flughafen, dann setzte der Pilot zur Landung an - obwohl die russischen Flughafenbehörden ihm nach eigener Darstellung davon abgeraten haben.

"Wir haben die polnischen Piloten noch 50 Kilometer vor Smolensk davor gewarnt, auf dem Flughafen zu landen", beteuerte der stellvertretende Stabschef der russischen Luftstreitkräfte laut einem Bericht in Polens größter Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Die Crew sei informiert worden, dass der Nebel tief hing und die Sicherheitsgrenze von 70 Meter unterschritt; die russischen Behörden hätten diese Warnung mehrmals wiederholt.

Beim Versuch, auf dem kleinen Militärflughafen zu landen, lief bis zu einer Höhe von 100 Metern alles glatt - da war das Flugzeug noch etwa anderthalb Kilometer von der Landebahn entfernt. Doch den Kontrolleuren am Flughafen fiel auf, dass die Maschine zu tief flog, sie empfahlen dem Piloten erneut, einen anderen Flughafen anzusteuern.

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Aber es war schon zu spät: Die Maschine streifte zuerst einen Antennenmasten, anschließend mit dem linken Flügel einen Baum auf der Höhe von acht Metern - an dieser Stelle hätte die Tupolew noch eine Höhe von 60 Metern haben sollen. Dann brach sie auseinander; keiner der Insassen hatte eine Überlebenschance.

Die russische Seite weist alle Schuld von sich

Mit ihrer Darstellung weist die russische Seite alle Schuld von sich. Ein russischer Flughafenkontrolleur mutmaßte in einer polnischen Nachrichtensendung, die polnische Crew habe vielleicht die Kommandos der russischen Flughafenbesatzung nicht verstanden. Ein ehemaliger Kommandeur der polnischen Flugbereitschaft widersprach jedoch umgehend: Der Kapitän der Maschine habe ausgezeichnet russisch gesprochen.

Andere suchen den Auslöser für das Unglück im technischen Zustand des Präsidentenflugzeugs oder der Ausstattung des Smolensker Flughafens.

Die Meinungen über die Tauglichkeit von Tupolew-Maschinen gehen auseinander. Manchen Statistiken zufolge sterben in den Flugzeugen aus russischer Produktion relativ mehr Menschen als in Maschinen der Hersteller Boeing oder Airbus. Andere Experten verweisen jedoch darauf, dass die meisten Abstürze von Tupolew-Maschinen in asiatischen Staaten passiert seien - Länder, die weniger Wert auf eine regelmäßige technische Wartung legten.

Die verunglückte polnische Tu-154 war fast 20 Jahre alt und hatte mehr als 5000 Flugstunden absolviert - nach Angaben des russischen Herstellers ist der Flugzeugtyp aber für mehr als 30.000 Flugstunden ausgelegt. Nach Angaben der polnischen Luftwaffe sei die Maschine im Dezember 2009 noch einmal überholt worden, sie sei in einwandfreiem Zustand gewesen.

Ein für den Transport Verantwortlicher erläuterte zudem in der Gazeta Wyborcza die hohen Standards für Flüge der politischen Führungsspitze: Jeder Mangel müsse vor dem Start behoben werden, die Anforderungen seien höher als in der zivilen Luftfahrt.

Geringe technische Ausstattung am Flughafen

Einigkeit herrscht darüber, dass der Militärflughafen in Smolensk über eine geringe technische Ausstattung verfügt. An den meisten zivilen Flughäfen unterstützen sogenannte Instrumentallandungssysteme (ILS) die Piloten bei der Landung und beim Abflug. Sie übermitteln auf ein Anzeigegerät im Cockpit einen Landekurs und einen Gleitpfad, also Informationen über die Höhe - der Pilot bekommt den Weg ganz exakt vorgegeben.

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Der Flughafen Smolensk verfügt jedoch nach Angaben polnischer Medien über kein solches Landesystem, der Pilot habe sich auf Radarinformationen und Kommandos der russischen Flughafenkontrolleure verlassen müssen. Ein ehemaliger polnischer Luftwaffenpilot verglich einen solchen Flug in der Gazeta Wyborcza mit einer Autofahrt, bei der der Fahrer ohne Sicht mit einer Geschwindigkeit von 300 Kilometern pro Stunde unterwegs sei und nur jemand am Telefon sage, in welche Richtung er lenken müsse.

800 wartende Gäste

Die Rahmenbedingungen verdeutlichen, wie riskant es am Samstag war, in Smolensk zu landen. Aber was wäre die Alternative gewesen? Die Maschine hätte in Minsk oder Moskau landen können. Doch beide Städte sind mehrere hundert Kilometer von Smolensk und vor allem von Katyn entfernt, wo die Delegation am Samstag der 1940 ermordeten polnischen Offiziere gedenken wollte.

Das Präsidentenpaar und seine 86 Begleiter hätten mit Autos weiterfahren müssen, wären mehrere Stunden unterwegs gewesen, die Zeremonie hätte sich auf den Nachmittag verschoben - und das, wo am Ort des Massakers bereits etwa 800 Ehrengäste warteten, darunter viele ältere und gebrechliche. Es scheint nicht unwahrscheinlich, dass Lech Kaczynski sich den Weg nach Katyn nicht durch das Wetter versperren lassen wollte und den Piloten unter Druck gesetzt hat.

Hinzu kommt, dass es ja die russischen Behörden waren, die dem polnischen Flugzeug zum Abdrehen rieten. Russlands Premier Wladimir Putin hatte in den Augen Kaczynskis noch wenige Tage zuvor auf einer Katyn-Gedenkfeier die Verantwortung des russischen Volkes heruntergespielt und grobe Geschichtsklitterung betrieben - vielleicht war auch das ein Grund für den Präsidenten, sich jetzt nicht den Anweisungen russischer Flughafenkontrolleure zu beugen.

Putin verspricht absolut transparente Aufklärung

Putin zumindest hat, um die Unschuld Russlands zu beweisen, absolute Transparenz bei der Aufklärung der Tragödie versprochen. Er selbst hat sich demonstrativ an die Spitze der Untersuchungskommission gesetzt, in der auch zwölf polnische Staatsanwälte mitwirken. Am Sonntag hat die Kommission bereits mit der Auswertung der vom Flugschreiber gesammelten Daten begonnen, die Analyse wird nach Angaben eines Militärangehörigen mehrere Tage dauern.

Erst die Aufzeichnungen der Blackbox wird Gewissheit darüber geben, was in den Minuten vor dem Unglück an Bord der Präsidentenmaschine passiert ist - ob der Präsident, um den Polen weint, Schuld trägt an seinem eigenen Tod, an dem Tod seiner Frau und eines Teils der polnischen Führungselite. Es würde die Tragik dieses zweiten Katyn, wie es Lech Walesa nannte, noch steigern.

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