Deutscher Angriff auf Polen 1939:Tatbestand: Selbstrufmord

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Plötzlich steht der Einmarsch in Polen wieder auf der politischen Agenda. Mit einer revanchistischen Ansicht widerspricht nun Vertriebenen-Funktionär Arnold Tölg der Forschung.

Joachim Käppner

Wenn es den Tatbestand des Selbstrufmordes gäbe: Arnold Tölg hätte sich dessen schuldig gemacht. Seit Jahren beteuert der Bund der Vertriebenen (BdV), keine reaktionären oder rechtsradikalen Positionen zu vertreten. Aber der baden-württembergische BdV-Chef, stellvertretendes Mitglied des Stiftungsrates für die Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung", hat behauptet, dass Polen bereits im März 1939 mobil gemacht habe, und der deutsche Angriff auf das Nachbarland daher nur der zweite Schritt gewesen sei.

Ungeklärte Schuldfrage? Beim Einmarsch deutscher Truppen in Polen reißen Soldaten der deutschen Wehrmacht einen Schlagbaum an der deutsch-polnischen Grenze nieder. (Foto: dpa)

Was immer Tölg und BdV-Chefin Erika Steinbach versucht haben, um diese Äußerung zu verharmlosen - derlei Thesen sind außerhalb von Nazikreisen lange nicht gefallen. Tatsächlich gab es Ende März 1939 eine Teilmobilmachung von Polens Armee, veranlasst durch Außenminister Jozef Beck. Diese war aber defensiv, eine Geste gegenüber Hitlers Drohungen: Polen würde kampflos keine Gebiete abgeben. "Es gibt keinen Frieden um jeden Preis", so Beck. Dies, wie Tölg, als aggressiven Akt zu deklarieren, der Hitler die Aufkündigung des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes ermöglicht habe, macht Opfer zu Tätern.

Wenige Tanks, veraltete Luftwaffe

In den Wochen zuvor hatte die Wehrmacht nämlich die "Rest-Tschechei" und Prag besetzt, obwohl die Tschechen 1938 das deutsch besiedelte Sudetenland aufgegeben hatten. Zudem hatte Hitler im März 1939 Litauen gezwungen, das Memelland an das deutsche Reich zurückzugeben. Nun richtete er Gebietsforderungen an Polen, das um seine Existenz fürchtete. In Danzig und im polnischen Korridor lebten viele Deutsche, deren Gebiet der Versailler Vertrag 1919 Polen zugeschlagen hatte. Dieses Minderheitenproblem diente Hitler als Vorwand für seine Kriegspläne. In dieser Lage wollte Warschau zumindest bedingt abwehrbereit gegen einen Angriff sein.

Es gab 1939 aber keine Bedrohung des Reichs durch Polen. Es gab eine Bedrohung für Polen - durch die Wehrmacht, die modernste Streitmacht der Welt. Die Polen hatten wenige Tanks und eine veraltete Luftwaffe; dafür warfen sie den deutschen Panzerspitzen Reiter mit Lanzen und Gewehr entgegen. Der Krieg in Polen war trotz tapferer Gegenwehr nach vier Wochen um. Polens Armee war zu keiner Zeit eine Gefahr für Deutschland gewesen.

Immer wieder haben sehr konservative Historiker versucht, den Angriff auf die Sowjetunion 1941 als Akt präventiver Notwehr darzustellen. Die Behauptung aber, die Wehrmacht habe 1939 beim Überfall auf Polen nur den zweiten Schritt getan, hat nach 1945 kein ernstzunehmender Mensch aufgestellt. Sie entspricht den Lügen über angebliche polnische Aggressionen, die Hitler seinem Volk auftischte: Angeblich hätten polnische Kommandos den deutschen Sender Gleiwitz angegriffen.

"Alles gegen Russland gerichtet"

Dabei war es Hitler, der seit langem die Zerschlagung Polens plante, als ersten Schritt zum Angriff auf die "jüdisch-bolschewistische" Sowjetunion und zur Eroberung von "Lebensraum" in Russland. Hitlers Absicht ist belegt. 1939 erklärte er: "Alles, was ich unternehme, ist gegen Russland gerichtet; wenn der Westen zu dumm und zu blind ist, um dies zu begreifen, werde ich gezwungen sein, mich mit den Russen zu verständigen, den Westen zu schlagen, und dann nach seiner Niederlage mich mit meinen versammelten Kräften gegen die Sowjetunion zu wenden." Der Weg dorthin führte über Polen.

Im Radio erklärte Tölg nun: "Ich bin kein Historiker, ich habe die Quellenlage nicht studiert." Ein Schulbuch hätte schon genügt.

© SZ vom 10.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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