Parlamentswahl in Russland:Wieso Putin plötzlich verwundbar ist

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Als Doppelpack ziehen Premier Putin und Präsident Medwedjew in den Wahlkampf. Jüngste Umfragen sehen ihre Partei bei etwas mehr als 50 Prozent - ein für "Einiges Russland" bescheidener Wert. Wladimir Putin scheint nicht mehr unbesiegbar - und jetzt werfen ihm russische Medien sogar Feigheit vor.

Frank Nienhuysen, Moskau

Ist das jetzt auch wieder so eine Waffe, mit der die Wähler beeindruckt werden sollen? Mit Raketen und Abwehrsystemen? Kaliningrad ist heikles Terrain, eine russische Insel in europäischen Gewässern - bestens geeignet, um von dort aus patriotische Botschaften ins russische Kernland zu verschicken.

Putin und Medwedjew: Das Gespann aus Premier und Präsident zieht mit dem Slogan "Gemeinsam werden wir gewinnen" in die Parlamentswahlen. (Foto: REUTERS)

Ausgerechnet wenige Tage vor der Parlamentswahl an diesem Sonntag ist Russlands Präsident Dmitrij Medwedjew dorthin gereist, um an der Ostsee einen Hauch von Kuba zu verbreiten. Das muss Kalkül sein. Frühzeitig nahm er eine Radaranlage in Betrieb, und wenn dieses Signal nicht ernst genommen werde, sagte er, dann werde es schärfere Maßnahmen gegen den geplanten Abwehrschirm des Westens geben. Präsident Medwedjew erwähnte sogar die Stationierung von Angriffswaffen.

Für die meisten der stolzen Russen ist dies vielleicht ein starkes Signal. Aber die Kaliningrader selber hätten wohl lieber Visafreiheit für Europa statt Raketen vor der Haustür. In kaum einer anderen Gegend Russlands ist der Verdruss größer als in der russischen Ostsee-Exklave. Von Moskau vernachlässigt fühlt sich das Gebiet, übergangen, nicht ernst genommen. Als Ministerpräsident Wladimir Putin einmal mit einem Handstreich die Importzölle auf ausländische Autos deutlich erhöhte, verloren Tausende Händler aus Kaliningrad im Nu ihre Arbeit. Proteste erhoben sich in der Exklave, die sogar in Rücktrittsforderungen gegen Putin mündeten.

Es war dies die erste wuchtige Botschaft in Russland, die sich gegen die Politik der Regierung richtete - und vielleicht der Beginn eines lang andauernden Trends. Nach einer Umfrage der Stiftung "Gesellschaftliche Meinung" liegt die Regierungspartei Einiges Russland in Kaliningrad bei weniger als 20 Prozent. Auch in anderen Teilen des Landes ist die Stimmung vor der Parlamentswahl am Sonntag gedrückt.

Dmitrij Medwedjew muss deshalb zum ersten Mal einen ernsthaften Wahlkampf führen. Präsident ist er vor vier Jahren mit Leichtigkeit geworden, weil Medwedjew die Wahl Putins war, als dieser im Zenit seiner Popularität stand, aber nicht noch einmal antreten durfte. Jetzt ist die Lage anders. Putin wird bei der Präsidentschaftswahl am 4. März wieder selbst kandidieren. Und Medwedjew ist jetzt bei der Parlamentswahl Spitzenkandidat einer Partei, die an Rückhalt verliert. Sogar die Zustimmungswerte für Ministerpräsident Putin, zugleich Vorsitzender von Einiges Russland, sind seit Beginn dieses Jahres leicht gefallen.

Das Gespann aus Präsident und Premier hat sich für den Wahlkampf fest aneinandergekettet und wirbt mit dem Slogan "Gemeinsam werden wir gewinnen". So wird es am Sonntag wohl auch kommen, aber auf lange Sicht scheint sich der Trend gegen Einiges Russland zu wenden. Die letzten veröffentlichten Umfragen vor der Parlamentswahl sehen die Partei von Putin und Medwedjew bei etwas mehr als 50 Prozent. Das wäre noch immer viel, aber doch deutlich weniger als bei der Wahl vor vier Jahren, als Einiges Russland 315 von 450 Sitzen erhielt und damit die für Verfassungsänderungen notwendige Zweidrittelmehrheit.

Kaum einer in Russland glaubt, dass dieses Ergebnis damals sauber zustande gekommen ist, und auch in diesen Wochen lässt die Regierungspartei nachhelfen. In Moskau kupferte Einiges Russland ziemlich dreist für ihren Wahlkampf das Logo ab, mit dem die Wahlkommission für Sonntag das Volk zur Abstimmung aufruft. Beschwerden über Druck auf die Wähler werden fast aus allen Landesteilen gemeldet. Und dennoch hat sich die Parteiführung bereits von ihrem Ziel verabschiedet, das Ergebnis aus dem Jahr 2007 zu wiederholen.

Offenbar dringt Putin nicht durch mit den guten Nachrichten, die er derzeit verbreitet. Fast 40 Milliarden Dollar habe das Ausland in den ersten zehn Monaten dieses Jahres in Russland investiert. Eine deutlich höhere Rente versprach er, Milliardenaufträge für die Rüstungsindustrie, Investitionen in die Bildung, und Militärangehörige erhalten von Januar an etwa das Dreifache ihres bisherigen Lohns. Russland wachse, blühe und gedeihe.

Auf dem Parteitag am vergangenen Sonntag ließ sich Putin obendrein feiern als nationaler Held, der das Land nach dem Ende der Sowjetunion aufgerichtet und durch den Tschetschenien-Krieg auch noch vor dem Zerfall gerettet habe. Sind die Russen also undankbar?

Putin und die Partei versuchen, sich als Garant der Stabilität in Szene zu setzen, aber längst tobt die Debatte, ob Stabilität nicht doch nur ein anderes Wort für Stillstand ist. Ein Teil ihres Gehalts investieren viele Russen in Bestechung, für den Studienplatz der Kinder, für einen Parkplatz vor dem Krankenhaus, für bessere Medikamente.

Einiges Russland herrscht in ganz Russland, und wer sich selbstgefällig als einzige Vertretung des Volkswillens aufführt, den trifft eben auch Volkes Zorn. Der Zorn von Soldaten, die versprochene Wohnungen noch nicht erhalten haben. Von Müttern, die für ihr Kind auf einen Platz im Kindergarten warten. Von denen, die so wenig Geld haben, dass sie sich Kinobesuche nicht leisten können. "Die Regierung kannst du nicht betrügen, sie betrügt dich", sagte ein Offizier, der über ein zu niedriges Gehalt klagte. Die Kluft zwischen dem Volk und dem aufgeblähten Staatsapparat ist groß. Und wenn das Volk zwischen diesem Staat und der herrschenden Partei nicht mehr unterscheidet, dann fallen deren Werte.

"Das Ansehen von Einiges Russland sinkt, weil die Menschen alles Unangenehme mit ihr verbinden", sagt der Politologe Dmitrij Oreschkin. Der Blogger Alexej Nawalny bezeichnete Einiges Russland als "Partei der Gauner und Diebe". Sogar Parteichef Putin spürt erste Zeichen schwindender Unantastbarkeit. Bei einer Boxveranstaltung begann das Publikum kürzlich mächtig zu pfeifen, als Putin zur Gratulation in den Ring stieg.

Ein paar Tage später sollte der Premier in derselben Halle erscheinen, um gegen den Gebrauch von Drogen zu kämpfen. Werbewirksam war sein Gesicht auf die Plakate in der Stadt gedruckt worden. Allein, Putin kam nicht. Die russischen Zeitungen werteten dies als Kneifen. So etwas hätte ihm vor einigen Monaten niemand zugetraut.

© SZ vom 01.12.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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