Norwegen und der Umgang mit Rechtspopulismus:Wenn absolute Freiheit blind macht

Nach den blutigen Anschlägen von Norwegen rufen selbst die liberalsten Politiker nach staatlicher Law-and-Order-Politik. Nicht so in Oslo. Meinungsfreiheit gilt in Skandinavien als heiligstes Gut. Das wäre ohne Einschränkung zu befürworten, wenn es denn einen breiten politischen Diskurs über Rechtspopulismus gäbe. Doch das ist in Nordeuropa nicht der Fall.

Bernd Henningsen

Wie weit ist es mit einem Land gekommen, wenn der König weint über die Untaten eines "Untertanen", fassungslos über das Geschehene, gar über den Zustand seines Landes? Seine emotionale Reaktion und die der norwegischen Regierungsmitglieder demonstrieren in sympathischer Weise (auch) die politische Sprachlosigkeit der politischen und medialen Eliten, ja der Gesellschaft insgesamt.

Norway Attacks

Die "norwegische Tragödie" hat das Land schwer getroffen. Seit Jahren fehlt dort die Debatte über den wachsenden Rechtspopulismus.

(Foto: dpa)

Das Bombenattentat und das anschließende Massaker vom 22. Juli 2011 - offenbar von einem Einzelnen geplant und exekutiert - haben das Land in einen Schockzustand versetzt. Die Dimensionen dieser "norwegischen Tragödie" haben shakespearesche Qualitäten; Tränen sind daher die überzeugendsten ersten Reaktionen.

Jens Stoltenberg, der Ministerpräsident und erste Repräsentant der Sozialdemokratie, die auch dann in Norwegen eine staatstragende Rolle hat, wenn sie nicht regiert - jener Jens Stoltenberg hat gleich nach dem Attentat gesagt, dass die norwegische Gesellschaft nicht von ihren Prinzipien der Demokratie und Offenheit lassen solle. Er klang, als wolle er sagen: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Diese Reaktion überrascht mitteleuropäische Beobachter.

Üblicherweise funktionieren die politischen Reflexe nach anderen Mustern: mehr Kontrolle, mehr Polizei, mehr Grenzbewachung - erst recht, weil der Attentäter die Jugend dieser staatstragenden Sozialdemokratie im Visier hatte. Selbst die Grüne Claudia Roth verlangte angesichts des Massakers nach mehr staatlicher Kontrolle, mehr staatlicher Prävention und Überwachung der rechten Szene insbesondere im Internet. Als ob der Verfassungsschutz sich bislang mit anderen Dingen beschäftigt hätte. Konfrontiert mit der Katastrophe, ziehen selbst die liberalsten Politiker die Karte der staatlichen Law-and-order-Politik. Nicht so in Norwegen.

Die Würde des Menschen ist in Nordeuropa heilig

Um dieses zu verstehen, muss man in die Vergangenheit schauen: Allen nordeuropäischen Verfassungen, jedenfalls vor ihren modernen Revisionen, ist die Auflistung von Menschenrechten fremd. Den ersten deutschen Grundgesetzartikel - "die Würde des Menschen ist unantastbar" - findet man in den skandinavischen Grundgesetzen nicht.

Gleichwohl sind auch diesen Gesellschaften die Würde des Menschen und die Respektierung seiner privaten Sphären heilig. Sie sind in die politische Kultur eingeschrieben durch eine aus dem 18. Jahrhundert stammende oberste politische Maxime der Presse- und Meinungsfreiheit, insbesondere in Schweden. Wer also die Presse- und Meinungsfreiheit respektiert, garantiert alle Menschenrechte - so die politische Kultur, so die politische Praxis.

Terrorismus aus der Mitte der Gesellschaft

Die Meinungsfreiheit ist in den vergangenen 200 Jahren zu einem heiligen Gut geworden, das (so gut wie) keine Einschränkungen kennt. Auch deshalb konnte nazistische, faschistische und rechtsradikale Literatur in Skandinavien produziert und nach Deutschland exportiert werden, wo dieses Schrifttum verboten ist.

Natürlich ist Hitlers "Mein Kampf" in unkommentierten Ausgaben erhältlich; niemandem würde einfallen, das zu verbieten. Die skandinavischen Gesellschaften haben in der Vergangenheit zugesehen, wie die rechtsradikalen Szenen anderer Länder, insbesondere Deutschlands und Österreichs, mit Schrifttum bedient worden sind. Diskussionen mit Skandinaviern über mögliche Schwächen einer verabsolutierten Meinungs- und Pressefreiheit stießen in der Regel auf Unverständnis.

Diese hartnäckige Verteidigung der Meinungsfreiheit in Skandinavien wäre einschränkungslos zu befürworten, wenn es gleichzeitig einen lebendigen Diskurs in diesen Gesellschaften über die politische Ordnung und Unordnung gäbe. Das ist aber nicht der Fall.

Schon vor Jahren stellte Hans Magnus Enzensberger fest, dass sich die norwegischen Medien in einem erbärmlichen Zustand befänden. Politische und intellektuelle Debatten fänden dort nicht statt. Er erntete wütenden Protest. Sein Urteil ist aber zu verallgemeinern. Die schwedische Presse ist nicht viel besser als die norwegische; allenfalls in den dänischen Medien finden Auseinandersetzungen über politische Entwicklungen und Fehlentwicklungen statt.

Vergebens sucht man in Nordeuropa einen breiten politischen Diskurs über den wachsenden Nationalismus, die Ausländerfeindlichkeit und den Rechtspopulismus, gepaart mit EU-Gegnerschaft. Diese Sprachlosigkeit entspringt der öffentlichen Hinnahme von politischen Unordnungskonzepten: Das Dogma der absoluten Meinungsfreiheit flößt den politischen und intellektuellen Eliten so viel Respekt ein, dass sie die Auseinandersetzung scheuen, ja gelegentlich einfach die Augen geschlossen halten gegenüber der politischen Realität.

Zu diesen Realitäten gehört, und darüber wird in Skandinavien nicht gesprochen, dass die ersten rechtspopulistischen Bewegungen Europas Anfang der siebziger Jahre in Dänemark und Norwegen entstanden sind. Sie kamen auf Anhieb ins Parlament und erreichten mit wechselnden Erfolgen nachhaltige Unterstützung bei den Wählern.

Die Gewalt ist Norwegens eigene Brut

Die nicht mitregierende Dänische Volkspartei, die auf die 1972 gegründete sozialstaatskritische und ausländerfeindliche Fortschrittspartei zurückgeht, bestimmt heute die dänische Regierungspolitik auf maßgeblichen Feldern, das politische Klima ist durch sie antieuropäisch, nationalistisch und antideutsch vergiftet.

Die norwegische Fortschrittspartei, deren Mitglied Anders Behrens Breivik war, sahen Meinungsforscher schon auf dem Weg zur Regierungsverantwortung - im Gegensatz zur politischen Elite Dänemarks ist sie bei den anderen politischen Parteien aber nicht akzeptiert. Die "Schwedendemokraten" kamen bei den jüngsten Reichstagswahlen knapp über die Sperrminorität; die Partei hat einen terroristischen, gewalttätigen Hintergrund, doch ihre heutigen Repräsentanten haben sich offenbar in den Augen ihrer Wähler von den rechtsradikalen Morden emanzipieren können. Schließlich erreichten mit den Wahren Finnen auch in Finnland die Rechtspopulisten und EU-Gegner fast 20 Prozent der Wählerstimmen.

Terrorismus und Fundamentalismus, der Ausbruch unprovozierter Gewalt - sie kommen aus der Mitte der Gesellschaft, das hat auch das Massaker in Norwegen gezeigt. Wenn die Skandinavier in den Spiegel schauen würden, müssten sie feststellen, dass das Böse nicht von außen über die Grenzen zu ihnen gekommen ist. Sondern dass die Gewalt ihre eigene Brut ist.

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