Rechtspopulisten:Das politische Klima in den Niederlanden hat sich gewandelt

Black Pete bungeejumps in Scheveningen

Ein Zwarte Piet beim Bungee-Sprung in Scheveningen: Einige halten ihn für ein Zeichen von Rassismus, andere sehen darin einen Angriff auf ihre Tradition.

(Foto: Jerry Lampen/dpa)
  • Rechtspopulist Geert Wilders hat die gesellschaftliche Debatte in seine Richtung gelenkt: Vor der Wahl geht es hauptsächlich um Ausländer- und Europapolitik.
  • Erst kürzlich forderte Ministerpräsident Mark Rutte die Einwanderer in einem offenen Brief auf, sich gefälligst "normal" zu verhalten oder nach Hause zu gehen.
  • Experten sehen viele Gründe für die Zerissenheit und den Rechtsruck in der Gesellschaft: Mangel an guten Wohnungen, soziale Ungleichheit - und falsches Spiel auf beiden Seiten.

Von Thomas Kirchner, Den Haag

Ein Diskussionsabend in De Balie, einem Kulturzentrum in Amsterdam, das sich als Podium für das "freie Wort" versteht. Thema: Islam, Islamismus, Radikalisierung. Auf dem Podium sitzen zwei Islamexperten und der Rechtsphilosoph Paul Cliteur, die zum islamkritischen Buch "Warum hassen sie uns eigentlich?" beigetragen haben. Am Ende redet das Publikum mit. Eine Zuschauerin ist aggressiv. Sie erhält mehrmals das Mikrofon, redet minutenlang und gibt schließlich eine Empfehlung ab: Mit Bezug auf ein Buch des Südafrikaners Peter Hammond fordert sie, alle Muslime bis auf ein oder zwei Prozent der Bevölkerung auszuweisen, und zwar zuerst die "Berufsmuslime", dann würden sich die anderen "beruhigen". Derzeit leben in den Niederlanden etwa sechs Prozent Muslime.

Ein Aufruf also, mehrere Hunderttausend Muslime aus dem Land zu werfen, wegen ihres Glaubens. Aber kein Protest im Saal, kein Widerwort. Ungerührt fragt der Moderator den Rechtsprofessor, wie man die Idee "juristisch rund bekommen" könne. Nun, das sei ein kontroverser Vorschlag, lautet die ausweichende Antwort, man könne "vorsichtiger" beginnen.

Der Aufruhr kam erst später, als eine Website die umstrittenen Aussagen des Abends in einem Video zusammenschnitt und mit einem "bayerischen Bierkeller der 1930er-Jahre" verglich. Amsterdamer Stadträte erwogen, Strafanzeige gegen die Diskutanten zu erstatten. "Diskriminierung wird zusehends normalisiert", sagte ein grün-linker Abgeordneter, "und diese Debatte passt dazu."

Am 15. März wird gewählt in den Niederlanden. Europa schaut auf diese Wahl, weil der Nationalist Geert Wilders in den Umfragen führt. Sein Vorsprung ist stark geschmolzen, außerdem haben die Meinungsforscher Wilders schon mehrmals zu hoch eingestuft. Aber ob der Populist nun Erster wird oder nicht, ist vielleicht gar nicht entscheidend. Sein Ziel hat er längst erreicht. Er hat es in den vergangenen elf Jahren, seit er mit einer eigenen Partei auf der politischen Bühne steht, geschafft, die gesellschaftliche Debatte in seine Richtung zu lenken. Nicht nur, dass seine beiden Hauptthemen, die Europa- und die Ausländerpolitik, auch Hauptthemen des Landes geworden sind. Es scheint sich auch das politische Klima in seinem Sinne verändert zu haben.

Der Ministerpräsident forderte Einwanderer auf, sich "normal" zu verhalten

"Shifting baselines" nennt die Volkskrant-Kolumnistin Asha ten Broeke das Phänomen. Die Grundüberzeugungen hätten sich verschoben, in kleinen Schritten, und auf einmal gelte als normal, was früher unsagbar gewesen sei, etwa die Deportation einer Glaubensgruppe zu fordern. Man tausche nun in aller Ruhe Gedanken über "ethnische Säuberung" aus, als redete man über den Umbau des Badezimmers.

Es ist nicht nur der Skandal-Abend in De Balie, der diesen Befund bestätigt. Neulich forderte Ministerpräsident Mark Rutte die Einwanderer in einem offenen Brief auf, sich gefälligst "normal" zu verhalten oder nach Hause zu gehen. Aus jeder Zeile sprach die Unterstellung, diese Bevölkerungsgruppe stelle als Ganze eine Bedrohung dar, oder jedenfalls ein Problem. Eine Abgeordnete von Ruttes rechtsliberaler Partei plädierte dafür, keine jungen Männer aus Nahost mehr ins Land zu lassen. Sonst sei Westeuropa bald "Eurabia" - ein Lieblingsausdruck der rechten Szene. Wilders selber gebrauchte am Wochenende im Wahlkampf mehrmals das Wort "Gesindel" für "einen Teil" der Marokkaner, worüber sich außer den muslimischen Verbänden niemand ernsthaft aufregte.

Yoeri Albrecht, der Direktor von De Balie, wurde heftig kritisiert für den Islam-Abend. Vollkommen zu Unrecht, wie er meint. Seine politischen Ansichten stehen denen von Wilders entgegen. "Aber ich kann nicht nur diejenigen einladen, deren Ansicht ich teile. Dann wären wir schnell fertig." Es sei nicht seine Aufgabe, den Gästen das Wort abzuschneiden. Solange nicht zu Hass oder Gewalt aufgerufen werde, müsse man alles sagen dürfen. Ihm gehe es um die offene Gesellschaft. "Das bedeutet, dass man miteinander redet, dass man einander zu verstehen versucht, dass man nicht sein Hirn schließt und sich in seine eigene Gruppe zurückzieht." Aber wurde an dem Abend wirklich miteinander geredet, hat man versucht, einander zu verstehen?

Für das Unbehagen der Niederländer gibt es viele Gründe

Albrecht folgt einem typisch niederländischen Impuls: der Idee, dass die Gesellschaft profitiere, wenn man möglichst viele Themen bespreekbaar (besprechbar) mache, sie aus der Tabuzone hole. Politisch wirkt das im Prinzip positiv. Es hat etwa zu einer außerordentlich offenen Sterbehilfe-Debatte geführt. Oder auch zu einem klaren Blick für die Schattenseiten der europäischen Integration. Außerdem gräbt man damit den Populisten das Wasser ab, die von der Behauptung leben, gewisse Dinge dürfe man nicht sagen. Andererseits kann es sehr schwierig sein, solche Debatten zu führen. Die Grenzen des Zulässigen und Zuträglichen müssen immer wieder mühsam neu gezogen werden, man gerät leicht in Grauzonen.

Genau dort fühlt sich Wierd Duk am wohlsten. Er war Korrespondent in Moskau und Berlin, ist jetzt ein stark beachteter Reporter bei AD, einer Tageszeitung der Mitte. Politisch steht er links außen, schätzt Sahra Wagenknecht und ihre Kritik des Spätkapitalismus. Aber mit nahezu jeder Publikation zielt er auf die linken und liberalen Politiker sowie die Medien, denen er vorwirft, ein "Gedankenkartell" zu bilden und nicht ansatzweise zu kapieren, wie es wirklich aussehe im Land. "Es ist einfach: Sehr viele Niederländer wollen weniger muslimische Immigranten. Das muss man zur Kenntnis nehmen." Weil sie sich weigerten, dies zu tun, würden sie "von einem großen Teil der Bevölkerung gehasst".

Das erkläre den Zulauf für Wilders, der davon ähnlich profitiere wie Donald Trump in den USA. Dort wurden die wütenden weißen Wähler erst nach dessen Wahlsieg entdeckt, während sich Duk schon seit Jahren verpflichtet fühlt, jenen Niederländern, die seiner Ansicht nach von den Medien ignoriert wurden, in Artikeln und Interviews eine Stimme zu geben. Im Herbst veröffentlichte er 17 zum Teil sehr ausführliche E-Mails von Menschen quer durch alle Schichten, die begründeten, warum sie Wilders wählen ("wegen des Islam", "um ein Signal an andere Parteien zu senden", "weil nur er sich um das Land kümmert") und angaben, dass sie sich bisher nicht getraut hätten, sich zu ihrer Wahl zu bekennen. Aus Angst, als Rassisten oder Faschisten beschimpft zu werden.

Aufklärung gegen Gegenaufklärung - ein falsches Spiel auf beiden Seiten ?

Duk sieht es als "historischen Fehler" der Volksparteien an, dass diese die Themen Islam und Migration nicht ausreichend angesprochen hätten. Das müsse sich ändern, sonst drohten "bürgerkriegsähnliche" Zustände. "Die Katastrophe entsteht nicht, wenn Wilders und Co. an die Macht kommen, sondern wenn diese linksliberalen Eliten nicht ausgetauscht werden." Viele meinen, Duk habe mit seiner Arbeit eine Grenze überschritten. Er übertreibe, sei nicht mehr Journalist, sondern Aktivist. Einer seiner schärfsten Widersacher (Duk nennt ihn "Feind") ist Leo Lucassen, Migrationsexperte am Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam. "Leute wie Duk machen Wilders bloß salonfähig", sagt er. Sie hätten in den vergangenen Jahren "mitgeholfen, die Unzufriedenheit der Leute auszubauen", durch ein bestimmtes "Framing", das der 2002 ermordete Populist Pim Fortuyn in die Welt gesetzt habe. Demnach würden alle Missstände in der Gesellschaft durch die Einwanderung verursacht, an der wiederum die "linke Kirche" schuld sei.

Das stimme einfach nicht, sagt Lucassen. Für das Unbehagen der Niederländer gebe es viele Gründe - der Mangel an guten Wohnungen oder die soziale Ungleichheit zählten dazu. Natürlich dürfe man die Probleme mit einzelnen Muslimen nicht ignorieren, doch die Annahme, den unteren Bevölkerungsschichten ginge es ohne Einwanderung besser, sei "Unsinn".

Duk und Lucassen stehen für die Polarisierung, die Zerrissenheit, die das Land prägen, seit Jahren schon, nicht erst in diesen Wahlkampfwochen. Zwei Lager stehen einander gegenüber, die sich gegenseitig gering schätzen und einander im Grunde, trotz der ständigen Aufrufe zum Dialog, wenig zu sagen haben. "Die Bruchstellen werden tiefer", sagt der Publizist Bas Heijne, ein schlauer Beobachter, der die Lage in dem Büchlein "Staat van Nederland" beschrieb. Es handle sich um den alten Konflikt zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung im neuen Gewand. Hier die gebildete, kosmopolitische Elite, mit den Idealen von Gleichheit, Freiheit, Individualität und Empathie. Dort jene, die das "Eigene" suchen, das Zugehörigkeitsgefühl, die Gruppe, die Nation; die in der nicht endenden Debatte um den "Zwarte Piet" über "kulturelle Enteignung" klagen, weil sie den Versuch, den schwarz geschminkten Nikolaus-Gehilfen heller zu färben, um die rassistische Konnotation zu entschärfen, als Attacke politisch überkorrekter Gutmenschen auf ihre Tradition werten.

Heijne entdeckt Fehler und "falsches Spiel" auf beiden Seiten. Ignoranz, Arroganz und fehlende Empathie bei den "Aufklärern". Als Beispiel nennt er die Chuzpe, mit der Ministerpräsident Rutte im vergangenen Jahr das klare Nein der Bürger im Ukraine-Referendum zu berücksichtigen versprach, es dann aber doch nicht tat. Die Gegenaufklärer wiederum steigerten sich, verstärkt durch die Echokammer Internet, oft in eine Sprache hinein, die von Hass, Wut und blankem Rassismus triefe. Eine echte Debatte werde erst dann möglich, wenn sich beide Lager ihrer Beschränkungen bewusst würden und einander mit einem Mindestmaß an Respekt und Ehrlichkeit begegneten.

Ein Geert Wilders lässt sich durch solche Appelle nicht beeindrucken. Er schaut gelassen zu, wie sich alle an ihm abarbeiten. Ihm nützen Verwirrung und Ärger, die er schürt mit seinen Tweets. Kürzlich diffamierte er einen linksliberalen Politiker mit einem gefälschten Foto als Scharia-Verteidiger. Es folgte der gewünschte Protest. Anschließend bedankte sich Wilders ironisch bei "allen Chefredaktionen" für die Aufmerksamkeit.

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