Neuwahlen:Schicksalswahl für die Türkei - und für Europa

Lesezeit: 3 min

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei einem Auftritt in Ankara. (Foto: dpa)
  • Bei den Parlamentsneuwahlen in der Türkei hofft die AKP, die absolute Mehrheit zurückzuerobern.
  • Das Land wird seit Wochen von Gewalt zwischen der Armee und kurdischen Rebellen der PKK erschüttert.
  • Die EU will die Türkei zur Zusammenarbeit in der Flüchtlingspolitik bewegen und ist an stabilen Verhältnissen interessiert.

Von Luisa Seeling

Am Freitag blickten viele Türken fassungslos auf die Zeitungsstände: Auf der Titelseite von Bugün prangte ein Foto von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, ganz staatstragend bei Feierlichkeiten zum Tag der Republik. Millet zeigte Regierungschef Ahmet Davutoğlu, wie er weiße Tauben in den Himmel steigen lässt. Am Mittwoch erst hatten die Behörden das Koza-İpek-Medienhaus gestürmt, zu dem beide Zeitungen gehören. Der Konzern steht nun unter staatlicher Aufsicht. Die neuen Treuhänder haben gleich Fakten geschaffen - und die regierungskritischen Blätter pünktlich zur Wahl auf Linie gebracht.

Wenn am Sonntag die Türken zum zweiten Mal in diesem Jahr über ein neues Parlament abstimmen, ist es für viele eine Schicksalswahl, nicht nur für das Land selbst. Die Folgen könnten auch in der EU-Kommission in Brüssel und im Kanzleramt in Berlin zu spüren sein.

Für die Kritiker entscheidet sich an diesem Wochenende, ob in der Türkei die Demokratie noch eine Chance hat oder ob sich das Land in einen autoritären Staat verwandelt. Für die anderen - die konservativ-islamische Regierungspartei AKP und ihre Anhänger - geht es um den Erhalt ihrer Vormacht im Staat. Um sie nicht aufgeben zu müssen, will die AKP die absolute Mehrheit zurückerobern, die sie bei der Parlamentswahl im Juni verloren hatte.

Die Umfragen versprechen kein anderes Ergebnis als im Juni

Damals stimmten die Bürger vor allem über Erdoğans Plan ab, per Verfassungsänderung ein Präsidialsystem einzuführen - mit sich selber an der Spitze. Den Wählern war so viel Machthunger nicht geheuer. Die AKP stürzte von fast 50 Prozent auf 41 Prozent ab. Zugleich schaffte es die prokurdische HDP damals über die Zehnprozenthürde ins Parlament. Für die AKP war es die schwerste Niederlage seit 2002, dem Beginn ihrer Regierungszeit. Auf eine Koalition mit den Oppositionsparteien wollte sie sich nicht einlassen. Lieber rief der Präsident Neuwahlen aus, in der Hoffnung, das Ergebnis im zweiten Anlauf verbessern zu können.

SZ-Grafik: Keller; Bilder: afp; Reuters; Quelle: Hoher Wahlausschuss der Türkei (YSK) (Foto: sz grafik)

Ob das klappt, ist allerdings zweifelhaft. Die jüngsten Umfragen sagen für Sonntag ein Ergebnis voraus, das sich von dem im Juni kaum unterscheidet. Denn die HDP dürfte erneut den Einzug ins Parlament schaffen.

Und doch ist diesmal die Lage deutlich anders: Das Land driftet seit Monaten ins Chaos ab, die Kämpfe zwischen Armee und kurdischen PKK-Rebellen sind wieder aufgeflammt. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, den Friedensprozess beendet zu haben, nachdem im Juli in Suruç ein Selbstmordattentäter mehr als 30 linke Aktivisten in den Tod gerissen hatte. Für die Tat wird die Terrormiliz Islamischer Staat verantwortlich gemacht, auch für den Anschlag am 10. Oktober in Ankara, bei dem mehr als hundert Menschen starben. Doch die Kurden werfen auch den Sicherheitsbehörden schwere Versäumnisse vor.

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Die Türken haben zum zweiten Mal in diesem Jahr über ein neues Parlament abgestimmt. Wie wird sich das Ergebnis auf den inneren Frieden des Landes und die EU auswirken?

Brüssel sieht die Eskalation mit Schrecken. Für Europa ist der Ansturm Zehntausender Flüchtlinge zum existenziellen Problem geworden - und die Türkei zum Schlüssel für eine Lösung; das Land ist der wichtigste Transitstaat für Migration in die EU. Um Ankara zur Mithilfe zu bewegen, kommt die EU ihm weit entgegen: Angeblich hält die Kommission einen kritischen Fortschrittsbericht zurück, um den Wahlkampf der AKP nicht zu stören.

Menschenrechtler sprechen von einem "schmutzigen Deal"; Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bestreitet den Vorwurf, betont aber, die EU müsse mit der Türkei zusammenarbeiten, ob es ihr gefalle oder nicht. Kanzlerin Angela Merkel hat Ankara Finanzhilfe, Visa-Erleichterungen und Unterstützung bei den EU-Beitrittsverhandlungen in Aussicht gestellt.

Das Verhältnis zwischen EU und Türkei hat sich verschlechtert

So sehr Europa aber auf stabile Verhältnisse in der Türkei hofft - niemand will Erdoğans Machtfülle noch weiter wachsen sehen. Denn das Verhältnis zwischen dem Beitrittskandidaten Türkei und der EU - und vor allem Deutschland - hatte sich in den vergangenen Jahren ohnehin schon deutlich verschlechtert.

Brüssel kritisierte Erdoğans autoritären Regierungsstil, sein hartes Vorgehen gegen politische Gegner und kritische Journalisten. Der türkische Präsident wiederum ließ kaum eine Gelegenheit aus, um zu zeigen, dass der EU-Beitritt für sein Land keine Priorität mehr hat.

In Brüssel und Berlin gilt deshalb eine große Koalition mit der Oppositionspartei CHP als beste Option, falls die AKP stärkste Kraft wird, aber die Regierungsmehrheit verfehlt. Denn so müsste die AKP Kompromisse eingehen. Ebenfalls denkbar: ein Bündnis zwischen der AKP und der ultranationalistischen MHP. Würden die Nationalisten an der Regierung beteiligt, wäre es das Aus für den Friedensprozess. Die MHP lehnt Gespräche mit der kurdischen PKK strikt ab.

Und wenn all diese Optionen scheitern? Eine Minderheitsregierung etwa der AKP, geduldet von der MHP, ist unwahrscheinlich - zu instabil wäre dieses Konstrukt. Türkische Medien spekulieren auch darüber, dass sich in der AKP eine Gruppe von Erdoğan-Gegnern abspalten und einer Koalitionsregierung zur Mehrheit verhelfen könnte, wenn Erdoğan sich dieses Mal erneut sperrt. Ein dritter Wahlgang wäre kaum vermittelbar, aber auch nicht ganz auszuschließen. Die ganz Pessimistischen fürchten, Erdoğan könnte die Macht per Notstandsverordnung an sich reißen. Was das für die Stabilität des Landes bedeuten würde, mag man sich in Berlin und Brüssel gar nicht ausmalen.

© SZ vom 31.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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