Nach der Brexit-Entscheidung:Londoner suchen den Exit aus dem Brexit

Brexit-Demo in London

Billie Porter, 25, hat die Anti-Brexit-Demo spontan über Facebook organisiert.

(Foto: Thorsten Denkler)

Vor dem Parlament versammeln sich EU-Befürworter. Mehr als zwei Millionen Briten wollen ein zweites Referendum. Und die Schotten wollen alleine in die EU. Ein Samstag in der Metropole.

Reportage von Thorsten Denkler, London

Billie Porter hält das blaue-weiße Megafon in der einen Hand, das Mikrofon in der anderen. 400 bis 500 Menschen stehen um sie herum, hören der 25-Jährigen zu. Eine spontane Versammlung auf dem Londoner Parliament Square im Schatten von Big Ben. Porter hat das Treffen über Facebook organisiert. Verspiegelte Sonnenbrille mit Goldrand. Rotbraune, schulterlange Haare, ordentlich zerzaust. Jeder soll hier reden können, sagt sie. Jeder soll hier "dem Ausdruck geben können, was er oder sie gerade denkt und fühlt".

Es ist Samstagmittag in London. Der zweite Tag nach dem Brexit. Der zweite Tag, nachdem die Briten mit einem Vorsprung von vier Prozent tatsächlich für den Ausstieg aus der Europäischen Union gestimmt haben.

Am Freitag noch schien die Stadt wie unberührt von den Ereignissen der Nacht. Die Menschen gingen zur Arbeit, zur Uni. Alles wie gewohnt. Auf den Plätzen, in den Cafés und Restaurants aber gab es oft nur das eine Thema: der beschlossene Brexit.

"Shame on you, Boris!"

Protest gab es nur vereinzelt. Am Freitagmorgen hatten sich vor dem Wohnhaus von Boris Johnson ein paar Dutzend Fahrradfahrer zusammengetan und den konservativen Kopf der Brexit-Bewegung an der Abfahrt gehindert. "Shame on you!", haben sie gerufen, "Shame on you, Boris!" - Schande über dich. Die Polizei hatte Mühe, Johnson in seiner Limousine aus dem Pulk zu befreien. Er könnte der nächste Premierminister des Landes werden. Johnson war mal einer der beliebtesten Bürgermeister, die London je hatte. Jetzt ist er ein Hassobjekt.

Applaus auf dem Parliament Square. Ein Mann hat Billie Porter um das Megaphon gebeten. Glatter Seitenscheitel, blaues Sakko, darunter ein blau-weiß-gestreiftes Hemd, ungebügelt. Mitte 30, vielleicht. "Als ich heute Morgen aufgewacht bin, da hatte ich Tränen in den Augen", sagt er. Tränen über den Verlust, der ihn, den eine ganze Generation in zwei Jahren wohl erwartet. Ein zustimmendes Brummen geht durch die Reihen. Der Beifall gilt ihm.

Es gibt bald vielleicht noch viel mehr zu betrauern als nur den Brexit. Am Samstagmorgen kommt die Nachricht, dass Schottland ein zweites Referendum über seine Unabhängigkeit anstrebt. Die notwendigen rechtlichen Schritte würden jetzt vorbereitet, sagte Regierungschefin Nicola Sturgeon nach einer Krisensitzung ihres Kabinetts in Edinburgh.

Brexit-Demo in London

"Liebes Europa, wir lieben dich immer noch. Herzliche Grüße, die 48 Prozent."

(Foto: Thorsten Denkler)

Das schottische Unabhängigkeits-Referendum 2014 war gescheitert - aber da waren die Umstände auch andere. Da war Großbritannien noch unverrückbarer Bestandteil der Europäischen Union. Das ist jetzt anders. Die Schotten haben am Donnerstag sehr deutlich gegen den Brexit und für den Verbleib in der EU gestimmt. Es hat nichts genutzt. Die schottische Regierung will jetzt möglichst rasch mit der EU verhandeln, ob es für ein unabhängiges Schottland einen schnellen Weg in die EU geben könnte. Wenn ja, und die Schotten spalten sich von Großbritannien ab, dann können die Briten das "Vereinigt" in "Vereinigtes Königreich" getrost streichen. Dann bleibt womöglich nur ein "Little England" übrig.

Der Weg aus der EU wird wohl härter als selbst Europa-Freunde angenommen haben. Die EU-Außenminister haben in einer Krisensitzung am Samstag die Briten aufgefordert, schnell zu machen. Sie wollen offenbar nicht bis Oktober warten.

Bis dahin soll ein neuer Premierminister gefunden werden. Und im Oktober findet der Parteitag der regierenden Tories statt. Premierminister David Cameron hatte am Freitagmorgen grob diesen Zeitplan für seinen eigenen Rückzug von allen Ämtern vorgestellt. Er wolle das Land jedenfalls nicht in die Austrittsverhandlungen führen.

Ein anderer Mann nimmt sich das Mikro auf dem Parliament Square. Blau-weiß-gestreiftes T-Shirt, Dreitagebart. Er fordert ein zweites EU-Referendum. Applaus und Jubel. Es könne nicht sein, dass "eine so wichtige Frage mit einem so unklaren Ergebnis besiegelt wird". Wieder Beifall. Er macht auf eine Online-Petition für ein zweites Referendum aufmerksam. Da seien jetzt schon nach wenigen Stunden ein paar zehntausend Unterstützer zusammengekommen.

Wenig später sind die Server zusammengebrochen. Mehr als zwei Millionen Menschen haben die Petition unterzeichnet. In einer weiteren Petition fordern Londoner ihren Bürgermeister Sadiq Khan auf, den Austritt der 8,5 Millionen-Einwohner-Metropole aus Großbritannien und den Eintritt in die EU vorzubereiten. Zehntausende haben dem Anliegen schon zugestimmt.

"Ich will meine Zukunft zurück"

Brexit-Demo in London

Ree, 30, will ihre Zukunft zurück. Eine Zukunft in der EU.

(Foto: Thorsten Denkler)

Ree ist nicht überzeugt, dass das noch helfen kann. Sie ist 30 Jahre alt, Grafik-Designerin. Unter dem schwarzen Mantel ein blaues T-Shirt mit dem Sternenkranz der EU. Ihren Nachnamen will sie nicht nennen. Sie arbeitet für einen großen Fernsehsender. "Ich hätte gerne ein zweites Referendum", sagt sie. "Aber ich glaube nicht, dass das klappt." Sie ist auf den Parliament Square gekommen, um Leute zu treffen, die denken wie sie. Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Halt. "Ich bin am Freitagmorgen in einem anderen Land aufgewacht", sagt sie. Das ist alles sehr emotional für sie. "Ich will meine Zukunft zurück."

Dies ist weniger eine Demo, mehr ein Happening. Wer reden will, der redet. Andere umarmen einander, spenden einander Trost. Es ist genau das, was Billie Porter wollte. Eine spontane Idee war das, sagt sie, als sich die Gruppe nach zwei Stunden langsam auflöst. Viele machen sich jetzt auf den Weg zur großen Gay-Pride-Parade durch die Londoner Innenstadt.

Die Idee hatte Billie am Freitagabend auf der Hochzeitsfeier eines Freundes. Ein schneller Facebook-Post mit der Einladung zu einer friedlichen Diskussion am Mittag vor dem Parlament hat gereicht. Gerechnet hat sie mit vielleicht 100 Leuten, Freunden vor allem. Nicht aber mit so vielen.

Warum hat sie das gemacht? "Der Brexit betrifft meine Identität", sagt sie. "Ich bin Europäerin. Das war für mich selbstverständlich, solange ich lebe." Und jetzt steht das alles in Frage.

Überrascht hat sie das. Und ins Mark getroffen. Aber sie hat selbst wohl auch nicht so genau hingeschaut, wie andere denken. Sie war sich sicher, dass die Brexit-Seite verlieren würde, verlieren musste. "Wir sind über Facebook und Twitter verbunden mit der ganzen Welt. Aber nicht mit dem Ort, von dem wir kommen."

Macht sie denen Vorwürfe, die für den Brexit gestimmt haben? Nein. Die seien nicht gegen die Jugend. Das seien auch nicht alles Rassisten, nur weil sie Angst vor Migration haben. Die seien nicht mal wirklich gegen die EU oder Europa. Aber: "Sie haben sich von der Leave-Bewegung ihre Gehirne waschen lassen und dann über etwas entschieden, das sie nicht wirklich verstanden haben."

Und wie geht es jetzt weiter? Das weiß sie auch nicht. Aber vielleicht werde aus diesem Happening ja eine Bewegung. Eine große Bewegung. Eine, die es schafft, dass Großbritannien doch in der EU bleibt. Und die ihr hilft, weiter das zu sein, was sie immer schon war: Europäerin.

Die Hoffnung ist vage. Aber sie ist da.

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