Nach dem Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt:Die Behörden wussten fast alles über Amri

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Bundesinnenminister Thomas de Maizière: Seine Behörden wussten fast alles über den mutmaßlichen Attentäter von Berlin. (Foto: AFP)

Dennoch schätzten sie ihn falsch ein und hielten ihn für einen Schwätzer. Die meisten offenen Fragen zielen jetzt auf die Regierenden in Nordrhein-Westfalen.

Kommentar von Hans Leyendecker

Das sind doch nicht nur Pleiten, das sind doch nicht nur Pannen, das ist doch ein einziges Fiasko von Versagern und Wegguckern, und die Fortsetzung folgt ganz gewiss. So reden viele in diesen Tagen nach dem Attentat in Berlin.

Wer sich den Fall genauer anschaut, kann aber ganz anders ins Staunen kommen. Die viel gescholtenen Sicherheitsbehörden haben im Fall Amri lange Zeit einen wirklich guten Job gemacht.

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Der Verdacht gegen den Mann, dessen Nummer Ermittler in Amris Handy fanden, hat sich nicht erhärtet.

Der Mann war nur einer von 549 Gefährdern, und dennoch wussten sie fast alles über ihn: mit welchen wirklich üblen IS-Sympathisanten er sprach, wen er anrief, wessen Telefone er benutzte. Alles bekannt - auch weil die Behörden in die Szene einen V-Mann eingeschleust hatten. Sie kannten die vielen Alias-Namen des Tunesiers, sie wussten, wo er welche und wie viele Moscheen (15) besucht hatte. Der Generalbundesanwalt war eingeschaltet, der Berliner Generalstaatsanwalt auch. Als sich Amri im Februar dieses Jahres in einem Chat jemandem vom IS als Selbstmordattentäter anbot, wurde seine Offerte von Sicherheitsbehörden mitgelesen.

Mobile Einsatzkommandos in NRW und in Berlin haben ihn dann beobachtet. Nicht rund um die Uhr, aber zeitweise sehr intensiv. Nur fünf Tage vor dem Anschlag haben die Behörden ein fast zwanzig Seiten starkes Dossier über ihn zusammengestellt. Chapeau! Man kann nur wünschen, dass sie über die anderen 548 Gefährder so viel wissen, wie sie über Anis Amri wussten.

Sie haben Amri vermutlich für einen Schwätzer gehalten

Und dann ist doch passiert, was nie hätte passieren dürfen. Die Staatsschützer hatten keinerlei Fortune. Sie haben ihn am Ende doch falsch eingeschätzt. Vermutlich haben sie ihn doch irgendwie für einen Schwätzer gehalten, der zwar über Attentate redete, aber letztlich nur schwadronierte.

Dass passiert ist, was passiert ist, lag nicht daran, dass die Polizei seit Jahren "kaputtgespart" wurde und nicht die notwendige "personelle und technische Ausrüstung habe, die der heutigen Gefahrenlage angemessen" wäre, wie Sahra Wagenknecht sagte. Gewerkschaftsgerede; in dem Fall von einer Linken-Fraktionschefin. Sie hatten alles - und sie haben es ihm einfach nicht zugetraut. Punkt. Vielleicht auch spielte der Föderalismus, wie so oft, eine bremsende Rolle. Das wird sich bei der Aufklärung des Falles zeigen.

Was bleibt, sind andere Fragen, und die meisten zielen auf die Regierenden in Nordrhein-Westfalen. Wie konnte es sein, dass es in dem Bundesland für Amri keine strengen Meldeauflagen gab? Wie konnte es sein, dass ein Gefährder wie er nach der Ablehnung seines Asylantrags ungehindert umherreisen konnte? Nordrhein-Westfalen verzichtete im Fall Amri auf alles, was gegriffen hätte. Polizei, Staatsschutz machten ihre Arbeit, aber die notwendigen Konsequenzen, die sich beispielsweise aus dem Aufenthaltsgesetz ergeben, wurden nicht gezogen: Wenn einer in Nordrhein-Westfalen gemeldet ist und sich vorwiegend in Berlin aufhält, muss ihn Nordrhein-Westfalen einsacken. Das geht. Da braucht man keine neuen Gesetze.

© SZ vom 30.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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