Mutmaßliche Attentäter Zarnajew:Stunde der Einwanderungsgegner

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Die Aufnahme des TV-Senders CBS soll Dschochar Zarnajew zeigen, wie er sich der Polizei ergibt. (Foto: AFP)

Auf die Festnahme folgt politischer Streit: Weil die mutmaßlichen Attentäter von Boston als Einwanderer in die USA kamen, fordern erzkonservative Kommentatoren und Politiker sofort schärfere Gesetze. Die Reform des Einwanderungsrechts, die Präsident Obama und eine überparteiliche Senatorengruppe vorantreiben, gerät in Gefahr.

Von Matthias Kolb

Noch während Tausende Polizisten, FBI-Agenten und Spezialkräfte am Freitag auf der Suche nach Dschochar Zarnajew die Bostoner Stadtviertel Watertown und Cambridge Haus für Haus durchforsten, beginnt der Kampf um die politische Deutungshoheit. Dass die mutmaßlichen Attentäter Dschochar und Tamerlan aus Dagestan in die USA eingereist waren, beschäftigt viele konservative Kommentatoren und Politiker.

In Los Angeles ätzt etwa Ann Coulter, Kolumnistin und Dauergast bei Fox News, via Twitter: Es sei zu schade, dass Senator Marco Rubio den Verdächtigen #1 alias Tamerlan Zarnajew nun nicht mehr einbürgern könne.

Rubio, der aufstrebende Senator aus Florida, ist der wichtigste Republikaner in der achtköpfigen, überparteilichen Senatorengruppe, die sich für eine Reform des Einwanderungsrechts einsetzt. Demnach könnten etwa elf Millionen illegale Einwanderer nach 13 Jahren und unter bestimmten Voraussetzungen einen US-Pass erhalten. Wer - wie Coulter - diesen Vorschlag für eine "Massenamnestie" hält, für den sind die Ereignisse in Boston ein gutes Argument.

Grenzkontrollen statt Reform

Auch der ultrakonservative Abgeordnete Steve King aus Iowa, der für die Republikaner 2014 in den Senat einziehen will, nutzt das Thema zur Profilierung. Man müsse "das große Ganze im Blick haben", mahnte er bereits am Dienstag. Die Beratungen über das Reformgesetz der Gang of Eight sollten gestoppt werden - stattdessen müsse über bessere Grenzkontrollen diskutiert werden.

Der einflussreiche Senator Charles Grassley, ebenfalls ein republikanischer Reformgegner, ist überzeugt, die Ereignisse in Boston würden helfen, "die Schwächen" der bestehenden Gesetze zu überprüfen. Grassley fragte, wie es sein könne, dass Individuen auf amerikanischem Boden solche Attentate planen könnten, ohne dass die Behörden darauf aufmerksam werden.

Hier deutet sich an, was den Diskurs in den nächsten Tagen bestimmen könnte: Hat das FBI Fehler gemacht, als sich 2011 ein ausländischer Geheimdienst über eine mögliche Radikalisierung des nun verstorbenen Tamerlan Zarnajew erkundigte?

Dem TV-Sender CBS News zufolge befragten damals Agenten den jungen Mann - und kamen zu dem Schluss, dass dieser keine Verbindungen zu Extremisten habe. Sollte sich herausstellen, dass die Bundespolizei Hinweise übersehen hat, dann werden die Republikaner dieses Versagen FBI-Direktor Robert Mueller vorwerfen - und natürlich auf Muellers Chef zielen: US-Präsident Barack Obama.

Im zutiefst polarisierten Amerika spottete die politische Rechte tagelang darüber, dass einige liberale Kommentatoren wie David Sirota in ihren Texten die Hoffnung äußerten, ein weißer Amerikaner - oder vielleicht sogar eine weiße Amerikanerin - habe die Boston-Bomben gezündet.

Auf der Website des National Review kontert der Journalist Kevin Williamson: Das Profil der Verdächtigen klinge wieder sehr bekannt. Es seien muslimische, radikalisierte Männer "mit einer Sympathie für den weltweiten Kampf gegen Dschihad und mit Wurzeln in einer für islamistische Gewalt bekannten Region."

Auf den gleichen Kanälen, also im Kabelfernsehen und vor allem auf Twitter, versuchen die progressiven Amerikaner und die Vertreter der Millionen Einwanderer dagegen zu halten. Es sollte doch klar sein, dass die Taten der Verdächtigen nicht das Denken der Tschetschenen oder der Einwanderer repräsentieren würden, twitterte Jose Antonio Vargas.

Für den vom preisgekrönten Journalisten zum Aktivisten gewandelten Vargas, der als Jugendlicher selbst illegal in die USA einreiste, sind die Taten schlicht "Wahnsinn". Auch Chuck Schumer, der mächtigste Demokrat in der Senatorengruppe, warnt davor, den Gesetzentwurf mit den Anschlägen zu vermischen. Das Argument des New Yorkers: Es nütze der Sicherheit der USA, wenn Millionen Menschen aus der Illegalität geholt würden und so besser überprüft werden könnten.

Eine gewisse Tradition

Schumer wird wie Marco Rubio darum kämpfen, dass der vielversprechendste Ansatz seit 30 Jahren für eine Reform der Einwanderungsrechts nicht scheitert. Wären die beiden Bomben nicht am Montag in der Nähe der Ziellinie des Boston-Marathons losgegangen, hätte Washington in dieser Woche über die Waffengesetze und Einwanderung diskutiert. Für Dienstag, den Tag nach dem Patriots' Day, war bereits eine Pressekonferenz angesetzt. Ein 17-seitiges Grundlagenpapier war überall ( etwa bei der Washington Post) verfügbar.

Um die für die Verabschiedung des Gesetzes nötige Zustimmung republikanischer Senatoren und Abgeordneten zu bekommen, sieht der Entwurf vor, die Kontrollen an den US-amerikanischen Grenzen weiter zu verschärfen und deren Wirksamkeit regelmäßig zu überprüfen - was Experten jedoch für nahezu unmöglich halten.

Dass die Bomber von Boston das ambitionierte Projekt, von dem elf Millionen Einwanderer ebenso profitieren würden wie die US-Wirtschaft (die Business-Lobby drängt die Republikaner zur Zustimmung) gefährden, wirkt zunächst überraschend. Der Economist nennt dafür zwei bemerkenswerte Argumente: Da die Täter offenbar in Amerika radikalisiert wurden und bisher wenig auf internationale Verbindungen hindeutet, können die US-Politiker nur innenpolitische Forderungen stellen - anders als nach 9/11 lässt sich kein ausländischer Staat zur Rechenschaft ziehen.

Außerdem wurden bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts strengere Regeln für die Aufnahme von Einwandern mit der Gefahr ausländischer Anarchisten und Terroristen begründet - die Republikaner würden so gewissermaßen einer Tradition folgen.

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