Labour-Vorsitz:Das Phänomen vom linken Rand

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Jeremy Corbyn: Wird er der neue Chef der Labour-Partei? (Foto: dpa)

Bisher gewann er nur den "Bart des Jahres". Jetzt ist Jeremy Corbyn der Favorit im Rennen um den Partei-Vorsitz. Wer ist dieser Mann?

Von Christian Zaschke, London

In der vergangenen Woche hat der BBC-Reporter Chris Mason jeden Morgen einen der vier Kandidaten für den Vorsitz der britischen Labour-Partei zu Hause abgeholt. Mit dem Auto. Die Idee: Auf der Fahrt ins Büro in Westminster würde Mason ein lockeres Plauder-Interview führen, und die Zuschauer hätten die Chance, die Politiker von ihrer menschlichen Seite kennenzulernen.

Zunächst war Mason mit Yvette Cooper unterwegs, die verriet, dass sie sich gerne heitere Sendungen im Fernsehen ansieht. Einen Tag später stieg Andy Burnham ein und übertrieb seinen Liverpooler Akzent mal wieder aufs Schönste. Dann war Liz Kendall dran, die, obwohl sie laut allen Umfragen nicht die geringste Chance auf den Parteivorsitz hat, sehr viel lachte und richtig gute Laune verbreitete.

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Als Mason bei Jeremy Corbyn vorfuhr, erwartete dieser ihn mit dem Fahrrad. "Ich liebe dieses Fahrrad", sagte er freundlich, "damit fahre ich überall hin." Dann schloss er es sorgfältig ab und setzte sich mit Reporter Mason ins Café.

Die Szene sagte mindestens zweierlei: Zum einen bewegt sich der betont bodenständige Corbyn natürlich nicht mit dem Auto durch London, sondern nutzt wie das Gros der gut acht Millionen Einwohner dieser Stadt das Rad und öffentliche Verkehrsmittel. Zum anderen macht er nicht jede Idee der Medien mit, sondern bestimmt selbst, wie und wo er sich befragen lässt. Die Wahlkampfstrategen Corbyns hätten den Auftritt nicht besser inszenieren können, aber eine Inszenierung war gar nicht nötig: Corbyn ist grundsätzlich immer wie er ist.

Vom "Bart des Jahres" zum Favorit für den Partei-Vorsitz

Seit 32 Jahren sitzt der 66 Jahre alte Corbyn für Labour im Parlament und gehört dort seit jeher zum sehr linken Flügel. Von der Neuerfindung der Partei unter Tony Blair als "New Labour" hielt er ziemlich genau nichts, was er gern und oft zum Ausdruck brachte.

Für Fraktionszwänge hat er sich ebenfalls nie interessiert. Wenn er anderer Meinung als die Parteispitze war, dann stimmte er auch so ab. Es ist wenig verwunderlich, dass er mit dieser Haltung nie für ein wichtiges politisches Amt in Frage kam. Dafür gewann er fünfmal die unter Abgeordneten vergebene Auszeichnung "Bart des Jahres".

Bis zu diesem Frühjahr hatte außer politischen Insidern kaum jemand von Jeremy Corbyn gehört. Dass er Parteivorsitzender werden könnte, galt als ungefähr so wahrscheinlich wie ein WM-Sieg der englischen Fußballer. Die Wettanbieter berechneten eine Quote von 200 zu 1.

Das hat sich drastisch geändert. Corbyn ist mittlerweile klarer Favorit auf den Parteivorsitz. Der neue Labour-Chef wird in einer Urwahl bestimmt. Seit die vier Kandidaten um den Vorsitz kämpfen, haben sich 160 000 Menschen neu bei der Partei registriert, um mitstimmen zu dürfen.

Dieser Zulauf verdankt sich vor allem Corbyn. Er zieht gleichermaßen junge Wähler wie ehemalige Labour-Mitglieder an, die sich unter Tony Blair von der Partei abgewandt hatten. 610 000 Menschen konnten bis Donnerstagmittag über den Parteivorsitz abstimmen. An diesem Samstag wird das Ergebnis auf einem Sonderparteitag bekanntgegeben. Die Umfrage-Institute sind sich einig, dass Corbyn im Rennen um den Vorsitz mit großem Abstand vorne liegt.

In den vergangenen Wochen sind die vier Kandidaten immer wieder gemeinsam auf Podien aufgetreten, um sich von Zeitungen, Fernsehsendern und dem jeweiligen Publikum befragen zu lassen. Bei der Debatte des Guardian wurde Andy Burnham gefragt, wie er sich den phänomenalen Aufstieg Corbyns erkläre. Burnham galt zunächst als deutlicher Favorit auf den Vorsitz. Als Schatten-Gesundheitsminister hat er sich für den Nationalen Gesundheitsdienst stark gemacht; außerdem spricht er mit diesem Liverpooler Akzent, der ihn von den Karriere-Politikern in Westminster abzuheben scheint. "Ich habe lange darüber nachgedacht", sagte Burnham. Dann sprach er über etwas anderes.

Corbyn ist ein ausnehmend höflicher Mann, der nie laut wird. Während Burnham versucht, sich durch seinen Akzent von der Elite abzuheben und wenigstens halbmenschlich zu wirken, muss sich Corbyn in dieser Hinsicht keine Mühe geben. Er wirkt authentisch und selbst seine vielen politischen Gegner erkennen an, dass er zu dem steht, was er sagt.

Das kommt auch bei der Labour-Basis gut an, weil die Partei nach der verlorenen Wahl im Mai, bei der die Konservativen die absolute Mehrheit errangen, auf der Suche nach sich selbst ist. Corbyns Kritiker sagen, dass viele seiner politischen Ideen aus dem vergangenen Jahrhundert stammen. Trotzdem wirkt er für viele Labour-Mitglieder wie die Chance auf einen Neuanfang. Oder zumindest wie die Chance zu einer Rückbesinnung auf die Wurzeln der Partei.

Die anderen Kandidaten stehen im Wesentlichen für eine Fortführung des wirtschaftsfreundlichen New-Labour-Kurses. Corbyn hat völlig andere Pläne. Er will Unternehmensgewinne höher besteuern und dafür sorgen, dass die Reichen mehr zum Gemeinwohl beitragen. Außerdem will er die Eisenbahn und die Energieversorger zumindest zum Teil wieder verstaatlichen.

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Er will die Studiengebühren abschaffen, ist gegen Atomwaffen und stellt den militärischen Interventionismus Großbritanniens in Frage. Die EU kritisiert er, weil sie zunehmend "als freier Markt" operiere, der die Rechte von Arbeitnehmern aushöhle. Laut einem seiner wirtschaftlichen Berater würde er den Chef der Bank von England entlassen, falls dieser sich weigerte, mehr Geld für Infrastruktur-Projekte zu drucken.

Es ist ein radikales, in weiten Teilen populistisches Programm, das bei Teilen der britischen Bevölkerung auch deshalb gut ankommt, weil sich in kaum einem Industrieland die Schere zwischen Arm und Reich so sehr geöffnet hat. Großbritannien erlebt unter den Tories zwar einen Aufschwung, aber bei Millionen Briten kommt davon wenig an. Und der Boom am Arbeitsmarkt verdankt sich auch den vielen neuen Billigjobs.

Der ehemalige Premier Tony Blair warnt vor Corbyn

Im Establishment der Partei verbreitet Corbyns Programm hingegen Schrecken. Heutige und frühere Labour-Größen haben die Wähler mit Appellen überhäuft, keinesfalls für Corbyn zu stimmen. Allein Tony Blair hat sich dreimal geäußert. Er ist in der Partei äußerst umstritten: Einerseits hat er sie zu drei Wahlsiegen geführt, anderseits in den Irak-Krieg. Er weiß, dass es zweischneidig ist, wenn er sich zu Wort meldet: Viele Mitglieder werden mit Freude und grundsätzlich genau das Gegenteil von dem tun, was Blair rät.

Der frühere Premier ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Wer in seinem Herzen fühle, für Corbyn stimmen zu müssen, der brauche eine Transplantation, sagte er. Er schrieb: "Wenn Jeremy Corbyn Parteichef wird, werden wir nicht wie 1983 oder 2015 verlieren. Es wird eine totale Niederlage, möglicherweise die Auslöschung."

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Für diejenigen, denen das immer noch nicht deutlich genug war, legte Blair nach: "Die Partei läuft mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen über die Klippe." Es sei jetzt nicht die Zeit, um des lieben Friedens willen stillzuhalten. Es sei "Zeit für ein Rubgy-Tackle". Corbyn reagierte gelassen. Er sagte ebenso gütig wie leise tadelnd, er wisse nicht, wie Politiker auf die Idee kommen könnten, einander persönlich anzugreifen. Man könne doch über alles sachlich diskutieren.

Im Café mit BBC-Mann Mason, der eigentlich Auto fahren wollte, sprach Corbyn ausdauernd über seine politischen Ziele. Hin und wieder nippte er am Kaffee, er sprach und sprach und unterlief mit seinem ernsten Vortrag das stets etwas alberne Format, in dem Politiker beweisen sollen, dass sie eine menschliche Seite haben.

Dann aber sagte er: "Ich verrate Ihnen jetzt ein Geheimnis: Ich habe sogar zwei Fahrräder. Ganz im Ernst: zwei." Corbyn gilt als eher humorlos, aber nun lächelte er erfreut, und in der Tat war dieser Witz gar so nicht schlecht.

Corbyn hatte sich eine leise Anspielung erlaubt, eine Retourkutsche gegen das Establishment der Partei, gegen Tony Blairs früheren Stellvertreter John Prescott. Dieser musste seinerzeit einräumen, dass er zwei Autos besaß, und da es sich um zwei Jaguars handelte, trug er fortan den schönen Spitznamen "Two Jags".

Seine Glaubwürdigkeit als Sprecher der einfachen Leute hat das erheblich unterminiert. Als Jeremy Corbyn wenig später mit dem Fahrrad gen Westminster aufbrach, winkte er grinsend zum Abschied.

© SZ vom 05.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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