Kolumne:Wehrlos

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Karl-Markus Gauß, 63, ist österreichischer Schriftsteller und Essayist. Er lebt in Salzburg. (Foto: Bernd Schifferdecker)

Wer heute in der Öffentlichkeit das Bewusstsein verliert, muss damit rechnen, in den sozialen Medien berühmt zu werden, noch ehe er aufgewacht ist. Das ist empörend.

Von Karl-Markus Gauß

Unlängst bemerkte ich in einem Museum, dass auch in mir ein Gewalttäter schlummert. Auf einer Bank war ein alter Mann eingenickt, erschöpft von der schönen Überfülle dessen, was er beim Gang durch die einzelnen Säle zu sehen bekam, oder von den vergangenen Tagen, die er als Tourist in der Stadt unterwegs war, oder auch nur von seinem Alter. Zwei 25-Jährige gehen vorbei, adrette Burschen, die zu den Guten zählen, denn welche 25-Jährigen gehen heute schon ins Museum, freiwillig. Nichts an ihrem Aussehen und Betragen stärkt den Verdacht, dass es sich bei ihnen um Hooligans der digitalen Ära handelt. Bis sie den Greis entdecken, der sich als Schlafender im Stande äußerster Wehrlosigkeit befindet. Sofort zücken sie ihre Smartphones und fotografieren ihn, dem der Kiefer aufgeklappt ist, und auch sich selbst, wie sie vor ihm grinsend posieren.

Jäh reißt mich der Zorn aus der Müdigkeit, in die auch ich, von Saal zu Saal schlendernd, geraten war, ich trete ein paar Schritte näher, versuche die freundliche Miene aus dem Gesicht zu bekommen, die es sich dort aus schlechter Gewohnheit bequem zu machen pflegt, und gebe mir Mühe, die beiden zusammenzustauchen. Das ist psychologisch so unklug, wie es ärger gar nicht sein kann, denn natürlich gelingt es mir auf diese Weise nicht, ihr Herz und ihre Vernunft zu erreichen. Aus Berechnung milder geworden, frage ich sie, ob sie denn nichts dagegen hätten, selbst fotografiert zu werden, wenn sie irgendwo eingeschlafen wären?

Wer solche Fotos schießt, ist fast so abgestumpft wie Schläger, die Obdachlose anzünden

Sie sehen mich groß an, zucken mit den Achseln, und mit fast schon arglosen Worten klären sie mich auf, dass doch nichts Schlimmes daran sei, eine harmlose Szene auf einem Foto festzuhalten. Ich hatte es also mit zwei Fotografen zu tun, die ein sympathisches Faible für harmlose Szenen haben. Sie zeigen sich über meine Vorhaltungen weder betreten noch belustigt, aber auch nicht aggressiv, sie sind zwei ratlose junge Leute aus gutem Haus, die gar nicht begreifen, was ich eigentlich von ihnen will. Wir nicken einander zum Abschied zu und entfernen uns in entgegengesetzte Richtungen. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass sie gerade dabei sind, vom Ende des Ganges Aufnahmen von mir zu machen, vermutlich, um ihren Freunden zu zeigen, wie ein echter Museums-Irrer aussieht.

In diesem Moment würde ich ihnen nur zu gern nacheilen, ihnen die Smartphones aus den Händen schlagen, diese mit den Füßen zertreten und dann selbst von ihnen als greinende Buben ein Foto machen und ins Internet stellen. So rabiat könnte ich werden, wenn ich mir nur sicher bin, dass die Empörung, die ich empfinde, eine gerechte ist.

Wer heute in der Öffentlichkeit das Bewusstsein verliert, weil er übermüdet, betrunken, verletzt ist, dem kann es widerfahren, in den sozialen Medien bereits zu Berühmtheit gelangt zu sein, noch ehe er wieder aufgewacht ist. Das Internet ist voll von Bildern, die wehrlose Menschen zeigen, die in diesem Moment nicht imstande sind, für ihre Integrität einzustehen; wer solche Fotos, ja, schießt und sie anderen zugänglich macht, ist zwar noch nicht so gefährlich, aber bereits ähnlich abgestumpft wie jene Schläger, die ihren Spaß daran haben, im Vorbeigehen einen schlafenden Obdachlosen anzuzünden.

Wenn sich Protest regt, reagieren die Täter ratlos und befremdet

Dabei kann man sich des Schlafs seiner Mitmenschen doch auch so fürsorglich annehmen, wie es der dänische Energiekonzern Dong versucht, ein in Nordeuropa führendes staatliches Unternehmen, das heute teilprivatisiert ist, neuerdings Ørsted heißt und einer der weltweit führenden Betreiber von Windparks auf See und zu Lande ist. Dong experimentierte jahrelang damit, wie seine Angestellten auf Harmonie, gute Laune, Gesundheit verpflichtet werden könnten. Das Unternehmensziel: eine Belegschaft, die täglich Höchstleistungen an Harmonie erbringt und in der darüber die Zufriedenheit wächst und wächst. Zuerst gab es das firmeneigene Fitnesscenter, in dem regelmäßig an seinem bresthaften Körper arbeiten musste, wer nicht als Störenfried gelten mochte, dann folgten Kochkurse mit fachkundiger Diätberatung, in denen die Angestellten sich in der Kultur der gesunden wie wohlschmeckenden Ernährung ausbilden sollten.

Und am gewiss nur vorläufigen Ende steht die Schlaf-App. Von der erwartet die Firma, dass die Mitarbeiter sie auf ihre Smartphones herunterladen, natürlich freiwillig und nur, wenn sie aus eigenen Stücken an ihrer Selbstoptimierung feilen möchten. Mit der App könne nämlich die Qualität des Schlafs verbessert werden, wurde von Dong argumentiert, was der Gesundheit jedes Einzelnen nutze, der durch das digitale Medium Dinge von sich selbst erfahre, die er vorher gar nicht wusste und an denen allerdings auch seine Firma interessiert sein könnte: Ob er nämlich tief und lang genug, aber auch wieder nicht zu lange schlafe, ob sein Atem regelmäßig sei, wie es sich für einen zufriedenen Mitarbeiter gehöre, oder er im Schnarchen gefährliche Aussetzer habe; vom moralischen Delikt des zu kurzen Schlafes einmal ganz abgesehen, sei dieser von der einsamen Liebe zur nächtlichen Lektüre im Bett oder vom Hang zur periodischen Berauschung im Freundeskreis verursacht.

Als sich Proteste regten, hat das Management von Dong genau so ratlos und befremdet reagiert wie meine zwei jungen Fotografen: Wie verrückt muss man sein, Böses in unserem Tun zu vermuten!

© SZ vom 10.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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