Kolumne:Privileg

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Die Kolumne der kroatisch-deutschen Schriftstellerin Jagoda Marinić, 40, erscheint alle vier Wochen samstags an dieser Stelle. (Foto: a)

In der Gesellschaft hält sich immer noch die Neigung, die Gleichstellung von Minderheiten als Schlechterstellung der Mehrheit zu interpretieren.

Von Jagoda Marinic

Warum ist Liebe politisch? In der Mailänder Scala zeigte das Ballett in dieser Saison das "Progetto Händel": Zwanzig Männer und Frauen tanzen zur Musik von Georg Friedrich Händel. Keine Erzählung, kein roter Faden, stattdessen ein Reigen, der Tanz zwischen Mann und Frau. Ein Paar nach dem anderen betritt die Bühne, tanzt das leichte Begehren, das unbeschwerte Werben, das tiefe Lieben - je nachdem, welche Kraft es zieht. Nach jedem Paar klatscht das Publikum euphorisch, weil es sich der Liebesarten, die hier gezeigt werden, selbst erinnert, sie ersehnt oder gar lebt. Gegen Ende betreten zwei Männer die Bühne. Es wird stiller im Saal. Sie tanzen wie all die Paare zuvor und werden doch nicht wie die Paare zuvor tanzen können, denn sie tanzen die Liebe zwischen zwei Männern. Sie tanzen die Ausnahme dieses Paarabends und somit auch die Frage nach dem Platz, den so ein Begehren finden kann oder nicht. Der Applaus, den sie erhalten, lässt sich einerseits als Begeisterung lesen, andererseits als Selbstverortung des Publikums. Noch immer braucht so etwas Mut. Wenn zwei Männer die Liebe tanzen, dann steht plötzlich auch die Frage auf der Bühne, ob diese Liebe zumutbar ist, geduldet oder gewollt. Es gibt Länder Europas, von der Welt ganz zu schweigen, in denen so etwas nicht auf die Bühne kommen könnte.

Es ist ein Privileg, die eigene Art zu leben und zu lieben nicht hinterfragen zu müssen

Privileg, das ist auch die Selbstverständlichkeit der eigenen Lebensform, dass man also die eigene Art zu lieben nicht hinterfragen muss, weil diese allerorts repräsentiert wird. Die heterosexuelle Liebe ist die Norm, die wir meist in der Kunst dargestellt sehen. Wer ins Theater oder Ballett geht,bekommt in der Regel eine Geschichte erzählt, die sich um diese Norm herum entspinnt. Wenn an diesem Abend kein tanzendes Männerpaar auf die Bühne gekommen wäre, hätten die meisten, die innerhalb dieser Norm lieben, vermutlich nicht einmal bemerkt, welche Facetten des Liebens nicht gezeigt werden. Privileg, das bedeutet auch, das eigene Nichtwissen nicht einmal bemerken zu müssen und es anderen zum Vorwurf machen zu können, wenn man sich seiner bewusst wird.

Es wird derzeit oft so getan, als hätten plötzlich Minderheiten den öffentlichen Raum übernommen und wollten der Mehrheitsgesellschaft das bessere Leben vorschreiben. Als gäbe es eine ohnmächtige Mehrheit, die aufgrund des neuen Selbstbewusstseins der Minderheiten nicht mehr zum Zuge käme. Der slowenische Berufsprovokateur Slavoj Žižek trieb dies erst kürzlich in einem Artikel auf die Spitze. Er brachte darin sein Befremden über die "Vancouver Pride Parade" zum Ausdruck. Da waren sie, so schrieb er, all die LGBTQIA+, und wollten um jeden Preis auf sich aufmerksam machen: knallenge Hosen, grelle Kleider, Kartonpenisse, alles, was man von den Paraden hierzulande auch kennt. Die konformen kanadischen Medien hätten Propaganda betrieben wie zu Zeiten Jugoslawiens und sich doch tatsächlich die Mühe gegeben, jeden der LGBTQ-usw.-Buchstaben auszusprechen. Žižek sah in dem "Treiben", wie er es nannte, vor allem den Ausschluss der Heterosexuellen aus dem gemeinsamen "Wir". Der Normale müsse sich jetzt unwohl fühlen ob seiner Normalität. Gleichzeitig beschrieb Žižek, wie Kanadas Premier Justin Trudeau mitsamt seiner Familie die Parade anführte und allen die Show stahl. Es gibt also durchaus Heterosexuelle, die sich an so einem Tag von diesem "Wir" nicht ausgeschlossen fühlen. So wie es jene gibt, die sich davon angegriffen fühlen, aber dies lieber umdeuten, statt zugeben zu müssen, wo sie selbst verortet sind. Nicht ihre Homophobie macht ihnen zu schaffen, sondern das moralische Urteil, das über sie gefällt wird. Ihre Haltung soll nicht als undemokratisch bewertet werden, so etwas kränkt das Selbstbild. Doch Meinungsfreiheit heißt nicht, dass die frei geäußerte Meinung nicht eingeordnet und bewertet werden darf. Diese Technik des Verdrehens wird von vielen reaktionären Kräften angewandt. Die Verteidigung der demokratischen Grundrechte im öffentlichen Raum - und nicht nur im Gerichtssaal - wird auch davon abhängen, wie konsequent solche Verdrehungstechniken entlarvt werden.

Nicht jeder Bürger, der seinen Willen und seine Wertvorstellung nicht umgesetzt sieht, kann sich in die Tradition der Demokraten von Hambach stellen. Es steht eine Ideengeschichte hinter der freien Gesellschaft, die Minderheitenrechte nicht zur Disposition stellt, sondern sie zum Kern liberaler Demokratien macht. Es gehört zu den Paradoxien unserer Zeit, dass einerseits der grundrechtlich verankerte Schutz von Minderheiten feierlich begangen wird und gleichzeitig das Verständnis dafür wächst, die Umsetzung von Minderheitenrechten im Alltagsleben als Bedrohung zu bewerten. Paraden wie die in Vancouver dauern nur einen halben Tag. Sie bringen ans Licht, was meist im Schatten unseres Zusammenlebens stattfindet. Die grelle Ausnahme solcher Tage wird von jenen, die sich bedroht fühlen, zur vermeintlich übermächtigen Normalität erklärt. Dies nur, weil sich die Mehrheitsgesellschaft einen Tag lang in ihrem Privileg, ihre Lebensform für selbstverständlich zu erachten, gestört fühlt. Es sind wenige Momente, die den Minderheiten im öffentlichen Raum in dieser Form zur Verfügung stehen. Manche meinen, diese Repräsentation ihrer Lebenswelt sei ein Privileg, dass den Minderheiten gewährt wird. Das ist es nicht, es geht nicht um Toleranz, sondern um gleiche Rechte.

Keine Schwulenparade dieser Welt wird dazu führen, dass heterosexuelle Paare nicht mehr heiraten. Umgekehrt dürfen selbst in Deutschland Homosexuelle allenfalls eheähnliche Partnerschaften schließen. Der rhetorische Dreh ist jedes Mal derselbe, ganz gleich, ob es sich um sexuelle oder ethnische Minderheiten handelt: Die Gleichstellung wird von ihren Gegnern als Schlechterstellung interpretiert. Viele wollen diesen Minderheiten nicht gleichgestellt sein. Sie wollen exklusiv sein. Und normativ zugleich. Das nicht gelten zu lassen, ist weder ein Maulkorb noch politische Korrektheit, es ist gelebte Demokratie.

© SZ vom 10.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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