Kolumne:Identität

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(Foto: N/A)

Trumps Identitätspolitik will alles, was in den USA nicht weiß ist, unsichtbar machen. Das wird nicht einfach, wie der Women's March on Washington gezeigt hat.

Von Jagoda Marinić

Am 28. August 1963 marschierten mehr als zweihunderttausend Menschen in Richtung Lincoln Memorial in Washington. Jeder kennt die Bilder. Jeder kennt die Rede des Mannes, der einen unsterblichen Traum hatte. In alten Videos kann man sehen, wie Martin Luther King als moralischer Anführer der Nation vorgestellt wurde, bevor er ans Mikrofon trat. Mehr noch als die schwarz-weißen Aufnahmen vermittelt einem dieser Satz den Eindruck von Vergangenheit. Heutzutage wird das Wort Moral angefasst wie ein Schmutzlappen, am liebsten jedoch gar nicht. Wer will schon mit Moral kommen, wenn er von Realität reden kann - und die erschließt sich heute angeblich nur noch durch Fakten.

Es ist nicht widersprüchlich, von Schwarzsein und Gerechtigkeit in einem Atemzug zu sprechen

Fast alle wollen derzeit über Facts und Fakes reden. Im Kern geht es darum, wer die Weltempörung beherrscht. Worüber werden die Leute reden? Und welche Leute? Es wird der Linken vielfach vorgeworfen, sie hätte durch ihre Identitätspolitik für ethnische Minderheiten, Homosexuelle und andere den einfachen Bürger aus dem Blick verloren und mit ihm die soziale Frage. Die emanzipatorische Proklamation von Martin Luther King trennte jedoch nicht zwischen dem einem und dem anderen. King sagte, der Schwarze lebe auf einer "einsamen Insel der Armut, in der Mitte eines weiten, weiten Ozeans des materiellen Wohlstands". Es liegt kein Widerspruch darin, vom Schwarzsein in einem Atemzug mit der Gerechtigkeitsfrage zu sprechen. Man vergisst die Ungerechtigkeit im Allgemeinen nicht, wenn man betont, wie eine Gruppe im Besonderen von ihr betroffen ist.

Auf der einsamen Insel der Armut leben inzwischen auch viele Weiße. Damals sprach man von Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und nicht zuletzt Brüderlichkeit. Diese großen Worte nimmt heute kaum einer mehr in den Mund. Statt gemeinsam gegen soziale Ungerechtigkeit zu kämpfen, ist ein spaltender Präsident gewählt worden. Er bekämpft und missbraucht die Identitätspolitik, um einigen Weißen zu versichern, sie hätten ein Geburtsrecht auf den weiten Ozean. Während "die anderen" zurück auf die einsame Insel sollen, am besten außerhalb des Landes. Trumps Identitätspolitik tut so, als wäre sie keine. Diese Form der Identitätspolitik ist bedrohlich, sie lässt andere verschwinden. Man nennt sie White Supremacy: der Luxus, die eigene Identität nicht zum Thema, sondern zur Norm zu machen, an der alles ausgerichtet wird.

Ich habe mich immer gefragt, wie es gewesen wäre, in einer Zeit zu leben, in der so viele für ihre Rechte auf die Straße gingen. Seit letzter Woche lebe ich in einer Zeit, in der weit mehr Menschen als damals für ihre Rechte auf die Straße gegangen sind. Der Women's March on Washington war ein Marsch von mindestens doppelt so vielen wie 1963. Er war, und das zeigt, wohin die offene Gesellschaft seit der Bürgerrechtsbewegung gekommen ist, verspielter, kreativer, größer und leichter, weil mehr Menschen ihre Bürgerrechte verinnerlicht haben und sie als universell verstehen. Zu Kings Zeiten war nur etwa ein Fünftel der Demonstranten weiß. Die nun gescholtene Identitätspolitik hat jene, die Bürgerrechte nicht als Instrument der Exklusion verstehen, zusammengeschweißt.

Dieser Zusammenhalt soll zum Verschwinden gebracht werden, das zeigen die letzten Monate und Tage deutlich. Das ist nichts Neues. Das Motiv der Unsichtbarkeit ist ein altes in der Geschichte der Minderheiten. Die Proteste nach der Amtseinführung waren ein klares Signal: Das Verschwindenlassen wird nicht so einfach. Eine Stimme zu haben, das ist nicht nur das Kreuz am Wahltag, es ist auch das Recht, die eigene Sicht auf die Welt vorzubringen.

Wer behauptet, die Freunde der offenen Gesellschaft hätten es mit der Identitätspolitik eben übertrieben, der übersieht, wie Identität und soziale Fragen verknüpft sind. Martin Luther King sprach als Nachfahre von schwarzen Menschen, die ihr Leben in Gefangenschaft verbracht haben, von Freiheit. Er konnte sich dabei auf einen weißen Mann berufen, der eine Freiheitsproklamation unterzeichnet hatte: Abraham Lincoln. Der Reichtum der einen basierte schon damals auf der Armut der anderen. Doch wer ist wer?

Das Erinnern an die Geschichte der Minderheiten war eine Maßnahme gegen ihre Unsichtbarkeit. Als Trump diese Woche den Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko verkündete, brachte er zur Pressekonferenz Familien mit, deren Kinder von illegalen Einwanderern ermordet wurden. Er machte Leid sichtbar, und pervertierte dabei historisch gewachsene Erinnerungsrituale. Er hob wahllos das Leid der einen hervor, ignorierte Statistiken, die zeigen, dass Illegale weniger kriminell sind als Einheimische oder legale Einwanderer. Er verschwieg alles andere, auch das Narrativ des sich erneuernden großen Wir, das sein Vorgänger zu erzählen versucht hatte.

Das war nur einer von vielen Versuchen derzeit, die Menschlichkeit und Individualität der Minderheiten zum Verschwinden zu bringen. Ich lebe nun in einer Zeit, in der die Menschen wieder demonstrieren. Auch in Deutschland gingen viele friedlich auf die Straßen. Die Geschichten, die zum Verschwinden gebracht werden sollen, sind auch die meiner Vorfahren, die Einwanderer waren, es sind die der Frauen, die für Rechte gekämpft haben, die ich einfach erhalten habe. In Deutschland gibt es keinen weltberühmten Abraham Lincoln, keinen Martin Luther King, auch keinen Barack Obama. Doch auch hier wird die dumpfe Botschaft immer lauter: "Wir", das meint für manche "wie wir". Doch wir, die hier geboren sind, deren Einwanderereltern derzeit fast aus dem Diskurs verschwunden sind, sind Teil dieses Wir. Wir schaffen seit Jahrzehnten ein neues Wir. Wir verschwinden nicht durch solche, die uns anfeinden. Jene, die sich gegen das Verschwinden wehren, sind Anfeindungen gewohnt. Die neue Verrohung ist für uns Fake News. Wir kennen das längst. Wir lassen uns nicht wieder unsichtbar machen, wir haben aus alten Fehlern gelernt. Wir sind hier. Lebt damit! Und mit uns.

Jagoda Marinić , 39, ist Schriftstellerin und leitet das Interkulturelle Zentrum Heidelberg.

© SZ vom 28.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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